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Aus: Ausgabe vom 18.07.2025, Seite 6 / Ausland
Nahostkonflikt

Israels Regierung kriselt

Premier Netanjahu muss nach Rückzug von zwei ultraorthodoxen Parteien um seine Mehrheit fürchten
Von Knut Mellenthin
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Wollen nicht in der Armee dienen: Ultraorthodoxe protestieren gegen geplante Einberufungen (Bnei Berak, 5.6.2025)

Es ist ein schwerer, aber vorerst noch erträglicher Schlag für Benjamin Netanjahu: Die »ultraorthodoxe« Partei Schas hat sich am Mittwoch zwar aus der Regierung, aber nicht aus der Koalition zurückgezogen. Andernfalls wäre der Premierminister jetzt ohne Mehrheit. Schas stellte im Kabinett bisher die Minister für Gesundheit, Inneres, Arbeit, Wohlfahrt und religiöse Dienste.

Israels »Ultraorthodoxe«, hebräisch oft als »Haredim« bezeichnet, werden traditionell von zwei Parteien repräsentiert, die hauptsächlich nach ihrer Herkunft unterschieden werden: Die Schas steht für die aus Nordafrika und dem Nahen Osten stammenden Sephardim und Mizrachim, die Partei Vereinigtes Torajudentum (VTJ) für die Aschkenasim, deren »Wurzeln« in Europa, besonders in Osteuropa, liegen.

Die meisten israelischen Regierungen seit der Staatsgründung 1948 waren auf die Unterstützung der »Ultraorthodoxen« angewiesen, deren Anteil an der jüdischen Bevölkerung derzeit auf etwa 13 Prozent geschätzt wird, aber aufgrund deren großer Kinderzahl und ihrem hohen Anteil an den Einwanderern kontinuierlich wächst. Ihre Schlüsselstellung bei Regierungsbildungen hat den Parteien der Haredim zu einem Einfluss auf das religiöse und gesellschaftliche Leben verholfen, der weit größer ist als ihr Anteil an der Bevölkerung.

Gegenstand des jetzt eskalierten Streits ist die gesetzliche und praktische Handhabung der Wehrpflicht, von der »ultraorthodoxe« Jugendliche traditionell befreit sind. Spätestens mit der Normalisierung des Kriegszustands seit Oktober 2023 ist die Anstößigkeit und Unhaltbarkeit dieses Privilegs immer offensichtlicher geworden. Die Zahl der Haredim im wehrpflichtigen Alter wird auf 80.000 geschätzt, die Streitkräfte geben ihren dringenden Mehrbedarf mit 12.000 Rekruten aus diesem Milieu an, aber nur etwa 1.800 pro Jahr lassen sich registrieren.

Die gegenwärtige Krise war am Montag zunächst durch den Rückzug der VTJ aus der Regierungskoalition ausgelöst worden. In der Knesset ist sie derzeit mit sieben Abgeordneten vertreten. Ihr Austritt aus der Koalition lässt der Regierung mit 61 von 120 Parlamentariern nur noch eine ganz knappe, prekäre Mehrheit. Die Partei führt für ihren Seitenwechsel die gleichen Gründe an wie die Schas, also hauptsächlich die Handhabung der Wehrpflicht, die sie als »grausame und kriminelle Verfolgung« der in Jeschiwas, religiösen Schulen, Lernenden kritisieren.

Nachdem sich am Mittwoch auch die Schas aus dem Kabinett verabschiedet hatte, wiederholte Oppositionsführer Jair Lapid, Chef der zentristisch-liberalen Partei Jesch Atid (Es gibt eine Zukunft), seine Forderung nach Neuwahlen. Israel werde nunmehr von einer »illegitimen« Regierung geführt, die keine Autorität habe, Entscheidungen von höchster Wichtigkeit zu treffen, wie etwa über das Schicksal Gazas und der Geiseln oder die Beziehungen zu Syrien und Saudi-Arabien.

Regulär wäre die nächste Knesset-Wahl erst Ende 2026 fällig. Der Privatsender Kanal 12 veröffentlichte am Mittwoch die Ergebnisse einer Schnellumfrage, die nach dem Rückzug der Schas durchgeführt worden war. Demnach bliebe Netanjahus Likud zum jetzigen Zeitpunkt mit 27 Sitzen stärkste Partei, ohne dass es zu einer regierungsfähigen Mehrheit reichte. An zweiter Stelle läge Naftali Bennett, Premierminister zwischen Juni 2021 und Juni 2022: Falls er sich entschließen würde, wieder eine Partei zu gründen, worauf viele Israelis hoffen, könnte diese der jüngsten Umfrage zufolge mit 23 Abgeordneten rechnen, müsste aber komplizierte Bündnisse eingehen, um eine Regierungskoalition führen zu können.

Relevant ist das alles zunächst nicht: Die Knesset geht am 27. Juli in die Sommerpause und kommt erst am 19. Oktober wieder zusammen. Das dämpft wahrscheinlich auch die unmittelbaren Auswirkungen der Regierungskrise.

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