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Aus: Ausgabe vom 12.07.2025, Seite 12 / Thema
Rechtsgeschichte

Mit zweierlei Maß

Was rechtlich nicht passt, wird politisch passend gemacht – der »Westen« demontiert das Völkerrecht. Ein historischer Abriss über den Niedergang des Rechts
Von Spyro Marasovic
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So viele Bretter vorm Hörsaal wie Rechtstheoretiker vorm Kopf. Barrikaden an der Humboldt-Universität Berlin (22.4.2025)

Das (Völker-)Recht hat gegenwärtig keinen guten Stand. Die Bundesrepublik Deutschland, eines der Gründungsmitglieder des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), scheint bereit, dieses Institut der politischen Demontage zu überlassen. Während sich die Vertreter der bürgerlichen Parteien, allen voran CDU und SPD, in der Vergangenheit bezüglich des Haftbefehls gegen Wladimir Putin für dessen unbedingte Vollstreckung einsetzten und die Grundsätze des humanitären Völkerrechts beschworen, sind sie in den vergangenen zwei Jahren auffällig ruhig geworden. Der aktuelle Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) kann sich eine Verhaftung des ebenso mit internationalem Haftbefehl gesuchten Benjamin Netanjahu nicht vorstellen und sicherte dem Ministerpräsidenten Israels sogar zu, ihn in Berlin zu empfangen. Ähnlich äußerte sich auch sein Amtsvorgänger Olaf Scholz (SPD) bei einem Gespräch mit dem jordanischen König Abdullah II. bin al-Hussein. Dass damit nicht nur das Römische Statut (die rechtliche Grundlage des IStGH), sondern auch das innerdeutsche Recht entwertet wird, spielt für die selbsterklärten Verteidiger des »Rechtsstaats« offenbar keine Rolle.

Die Zusammenarbeit Deutschlands mit dem IStGH und die daraus folgenden rechtlichen Verpflichtungen sind im sogenannten IStGH-Gesetz geregelt. Dieses ordnet in Paragraph 2 die verpflichtende Verhaftung und Überstellung durch deutsche Behörden an die Körperschaften des IStGH an – ein Verfahren, welches durch die deutsche Justiz geleitet wird gemäß Paragraph 12 IStGHG in Verbindung mit Paragraph 21 GVG (Gerichtsverfassungsgesetz). Sollte Netanjahu Deutschland besuchen und die Bundesregierung ein derartiges Verfahren verhindern wollen, müsste sie politisch in die internen Abläufe der Justiz eingreifen. Die Gewaltenteilung in der BRD, das heißt, die in Artikel 20 des Grundgesetzes garantierte Unabhängigkeit der Justiz, wäre dahin.

Aber wenn es um Israel geht, gelten offenbar andere Maßstäbe. Die Normen des Grundgesetzes bzw. des Rechts allgemein werden neben den politischen Interessen Israels und der deutschen Staatsräson als zweitrangig betrachtet. Das zeigte sich auch beim völkerrechtswidrigen Angriff Israels auf den Iran. Statt die Grundsätze des Völkerrechts hochzuhalten, wie es die NATO-Staaten beim Ukraine-Krieg zu tun vorgaben, suchte man händeringend nach einer politischen Rechtfertigung für diesen klaren Bruch des humanitären Völkerrechts. Das Bombardieren von iranischen Zivilisten wurde da schnell mal zur notwendigen »Drecksarbeit« (Friedrich Merz) erklärt. Historische Parallelen zum Überfall der USA auf den Irak 2003, inklusive einer faustdicken Lüge als Rechtfertigung – die vom damaligen US-Außenminister Colin Powell erfundenen Massenvernichtungswaffen –, sind offensichtlich.

Nach politischer Vorliebe

Die hier zutage tretende Doppelmoral zeigt sich auch im kleinen. Die Gruppe »Students for Palestine« in Hannover legte kürzlich einen Bericht vor, in dem sie schwere Vorwürfe gegen den Präsidenten der Leibniz-Universität Hannover, Volker Epping (Professor für Völkerrecht), erhob. Die Gruppe kritisierte, dass die Universität auf verschiedenen Ebenen Beziehungen zu Institutionen unterhalte, die an dem Völkermord in Gaza mittelbar beteiligt sind, und daher über die wissenschaftliche Kooperation in den militärisch-industriellen Komplex Israels verstrickt sei. Der Abbruch derartiger akademischer Kooperationen ist rechtlich kein Problem. So hatte die Universitätsleitung nämlich im Jahr 2022 agiert. Begründet wurde dies seinerzeit mit dem Bruch des Völkerrechts durch Russland und der Verteidigung der europäischen Friedensordnung. Der Genozid in Gaza, das Apartheidregime in der Westbank und der völkerrechtswidrige Siedlungsbau scheinen für die Universität jedoch nicht auf derselben Stufe zu stehen. Laut dem Bericht werden Kooperationen mit israelischen Institutionen nicht geprüft oder abgebrochen. Bereits mehrmals versuchte die Hannoveraner Studierendenschaft eine Zivilklausel, die ausschließliche Forschung zu zivilen Zwecken vorschreibt, einzuführen. Gestoppt wurde ein solcher Vorstoß zuletzt 2017 mit dem Verweis darauf, dass eine solche Klausel verfassungswidrig wäre. Dass zahlreiche Hochschulen in Deutschland über eine entsprechende Klausel verfügen und eine solche in der Vergangenheit sogar Teil des niedersächsischen Hochschulgesetzes war, fand in den Erwägungen der Universität keine Berücksichtigung.

Es ist zu beobachten, dass Recht seinen allgemein-bindenden Charakter verliert und vermehrt selektiv angewandt wird. Die Grundlage des Verfassungsstaats, nach der Recht auf alle anwendbar und auch für die staatliche Gewalt bindend ist, spielt eine immer geringere Rolle. Statt dessen werden Rechtsnormen je nach politischer Vorliebe angepasst, vorrangig um die Interessen der bürgerlichen Parteien abzusichern. Auffällig ist dies vor allem in Bezug auf Israel, so dass man sich fragt, ob überhaupt irgendeine Handlung der israelischen Regierung denkbar wäre, die nicht von Deutschland politisch gedeckt werden würde. Kürzlich führte CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter sogar an, dass im Zweifel auch deutsche Soldaten für Israel sterben müssten, denn das wäre halt die Staatsräson.

So wie das Völkerrecht auf der internationalen Bühne demontiert wird, werden auch innerhalb Deutschlands Rechte abgebaut, beispielsweise wenn die Versammlungsfreiheit des Grundgesetzes vom Berliner Bürgermeister spontan suspendiert wird (so bei den Vorgängen rund um den Palästina-Kongress im April 2024), der Innenminister eine europarechtswidrige Pushbackpraxis an den Grenzen verfolgt oder der Bundestag wiederholt Anträge beschließt, welche offensichtlich verfassungswidrige Handlungen von deutschen Behörden fordern (BDS- und Antisemitismus-Resolution).

Progressive Juristen stehen dieser Entwicklung zunehmend resigniert gegenüber. Eine Antwort darauf scheint die kritische Rechtswissenschaft noch nicht gefunden zu haben. Gelegentlich auflodernde Abwehrkämpfe begründen noch keine gesellschaftliche Weiterentwicklung. Rechtspolitische Auseinandersetzungen um sozialen Fortschritt und Teilhabe finden eigentlich nicht statt, sie werden strukturell durch eine konservativ dominierte Juristenschaft verhindert. An den Fakultäten der Universitäten sind eine mechanische Rechtsanwendung und ein ahistorisches Staatsverständnis vorherrschend. Doch dieser Zustand ist weder historisch zwingend noch unveränderlich. Es gab eine Zeit, als deutsche Richter, bewaffnet mit Bajonetten, in den Schützengräben der Revolution standen, Kommunisten Jahrhundertprozesse gegen die Reaktion vor Gericht ausfochten und Juristen sich im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung engagierten. Die Theorie und Praxis solcher Akteure spielen heute an den juristischen Fakultäten keine Rolle mehr, aus dem Kanon wurden sie mehr oder weniger verdrängt. Dabei lohnt es sich, einen Blick zurück zu werfen, ganz im Sinne August Bebels: »Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.«

Rückgrat des Liberalismus

Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich die seit mehreren Jahrhunderten schwelenden Konflikte zwischen dem aufkommenden Bürgertum und den Feudalsystemen zunehmend zu offen ausgetragenen politischen Kämpfen verschärft. Den offenen Bruch mit den Feudalgesellschaften des Mittelalters markierte die Französische Revolution im Jahr 1789. Auch wenn deren Errungenschaften, denen man angesichts solcher Revolutionäre wie François Noël Babeuf und der kurzen Herrschaft der Jakobiner durchaus frühsozialistische Züge zugestehen kann, durch die Konterrevolution des Jahres 1794 zunächst zurückgenommen wurden, war das Rad der Geschichte in Gang gesetzt worden. Die Resultate der bürgerlichen Umwälzung ließen sich nicht mehr tilgen. Das Gedankengut der Revolutionäre verbreitete sich über ganz Europa und fegte in mehreren Wellen (1830, 1848, 1871, 1918) die Reste des Feudalsysteme hinweg.

Der bürgerliche Liberalismus war in Preußen und im Deutschen Bund stets schwächer vertreten als in Frankreich oder England. Doch auch in Deutschland wurde der Liberalismus schlußendlich zu einem wichtigen Bezugspunkt für die deutsche Rechtswissenschaft. In den Jahren zwischen dem Wiener Kongress 1814/15 und der gescheiterten Märzrevolution von 1848 war die politische Entwicklung von immer wieder aufflammenden Liberalisierungsversuchen gekennzeichnet, die von der Staatsgewalt stets brutal niedergeschlagen wurden. Anzuführen sind hier etwa die Abschiebung der Göttinger Sieben – einer Gruppe liberal-demokratischer Professoren – im Jahre 1837 und zahlreiche studentische Aufstände. Allein 1836 wurden 204 Studenten vom Berliner Kammergericht verurteilt, zahlreiche davon zum Tode. In diesem reaktionären politischen Klima wuchs eine Generation von Juristen heran, die sich den Kampf gegen den preußischen Obrigkeitsstaat auf die Fahnen geschrieben hatte. Diese sahen in der Verwirklichung einer freien Justiz die wichtigste Voraussetzung für bürgerliche Freiheiten.

Diese oppositionellen Juristen bildeten das eigentliche Rückgrat des politischen Liberalismus in Deutschland. Einer von ihnen war Benedikt Windeck, Rat am geheimen Obertribunal in Berlin. Er wurde infolge der Märzrevolution für ein halbes Jahr wegen Hochverrats inhaftiert. Im preußischen Landtag entwickelte er sich zu einem der beharrlichsten Gegenspieler Otto von Bismarcks. Nach seinem Tod im Jahre 1870 schlossen sich dem Trauerzug in Berlin 20.000 Menschen an. Ein weiterer Vertreter dieser Generation war Heinrich Simon, Stadtgerichtsrat in Breslau, der für seine führende Rolle in der Märzrevolution zu lebenslänglichem Zuchthaus in Abwesenheit verurteilt wurde.

Der Einfluss dieser Juristen zeigte sich auch in den ersten frei gewählten Parlamenten. Die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 bestand zu einem Viertel aus Richtern oder Rechtsgelehrten. Das preußische Abgeordnetenhaus – in dem im Jahr 1862 230 Liberale elf Konservativen gegenübersaßen – wurde wegen seines großen Anteils an Juristen auch »Kreisrichterparlament« genannt. Als dieses im preußischen Verfassungskonflikt (1860–1866) die offene Konfrontation mit dem Staat suchte, sprach Bismarck von »Kreisrichtern und anderen Revolutionären«.

Gesäuberte Justiz

Infolge des Scheiterns der Märzrevolution richtete Bismarck eine Staatsanwaltschaft ein, die verstärkt auch gegen oppositionelle Politiker eingesetzt werden konnte. Nach Gründung des Kaiserreichs 1871 wurde die Justiz durch gezielte politische Maßnahmen von Richtern und Anwälten mit revolutionärer Vergangenheit gereinigt. Die Anzahl der Gerichte wurde vermindert, die zehn ältesten Jahrgänge (also die Generation aus der Revolutionszeit) entlassen und das juristische Studium angepasst. Wer Richter werden wollte, musste eine zehnjährige Probephase bestehen und konnte jederzeit entlassen werden. Die Justiz wurde damit von kritischen Stimmen gesäubert. Ein vorauseilender Gehorsam setzte sich durch. Zum Zeitpunkt der Sozialistenverfolgung in den 1880ern traf die deutsche Arbeiterbewegung bereits auf einen politisch geschlossenen Richterstand, der führende Sozialdemokraten regelmäßig zu Haftstrafen verurteilte. Gegen zahlreiche Akteure der Arbeiterbewegung wurden in der Folgezeit Prozesse wegen Hochverrats angestrengt, darunter August Bebel, Wilhelm und Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.

Zu selben Zeit bildete sich der Monopolkapitalismus heraus. Damit veränderten sich auch die Ansprüche, die an die staatliche Gewalt gestellt wurden. Die frühe liberale Rechtstheorie war noch vom Idealtyp eines Vertragsstaats ausgegangen, in dem der Staat lediglich Privateigentum, Handels- und Gewerbefreiheit garantiert und einen rechtssicheren Rahmen für die freien und gleichen Bürger stellt, damit diese ihre Angelegenheit in vertraglicher Autonomie regeln können. Nun wurde ein autoritärer Staat benötigt. Die kapitalistischen Märkte wurden von wenigen Unternehmen beherrscht, die einen ständig wachsenden Bedarf nach Absatzmärkten und Ressourcen hatten, um ihre Produktion aufrechtzuerhalten. Das Monopolkapital benötigte einen Staat, der dessen Interessen aggressiv nach außen vertreten konnte, der einen Fokus auf Kolonialpolitik legte sowie Stabilität nach innen gewährleistete. Um einer immer stärker werdenden Arbeiterbewegung entgegenzuwirken, bedurfte es einerseits Repression (Sozialistengesetz), andererseits Entschärfung, weshalb manche Forderungen der Arbeiterbewegung mit der Sozialgesetzgebung umgesetzt wurden. Die Arbeiter sollten befriedet, aber nicht an der Macht beteiligt werden. Diese politischen Entwicklungen mussten auch rechtstheoretisch unterbaut werden.

Fortan dominierte der Rechtspositivismus, der für sich beanspruchte, ein entpolitisiertes Recht zu sein. So sollte es bei einem Gesetz nicht mehr darauf ankommen, ob es gerecht oder ungerecht sei, sondern nur, dass es existiert. Für den Positivismus spielte die Analyse der Gesellschaft und ihrer historischen Entwicklung keine Rolle. Dadurch wurden autoritären Tendenzen Tür und Tor geöffnet. Die Legitimität von Recht war nur noch an dessen Durchsetzbarkeit durch die staatliche Gewalt geknüpft, ein reines Machtmittel zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft. Die Rechtswissenschaft wurde aus dem Kontext der Gesellschaftswissenschaften herausgelöst und etablierte sich als Disziplin, die sich allein auf die Tatsache der Existenz bzw. Durchsetzbarkeit einer Rechtsnorm gründet. Jegliche politisch-inhaltliche Analyse galt als (tendentiell) unwissenschaftlich bzw. wurde in andere Wissenschaftszweige verschoben. Wer Recht setzt und welchen Interessen dies dient, spielte in rechtswissenschaftlichen Analysen künftig keine Rolle mehr.

Parallel zu den Bismarckschen Säuberungswellen in der deutschen Justiz wurde 1878 die freie Advokatur eingeführt. Damit waren alle politischen Hindernisse bei der Anwaltszulassung beseitigt. Dies hatte den Effekt, dass zahlreiche liberale Richter den Dienst quittierten und fortan als Rechtsanwälte arbeiteten. Langfristig führte dies dazu, dass die Anwaltszunft in der Weimarer Republik stark republikanisch geprägt war und sich gegenüber dem konservativen Richterstand als »Stütze der Weimarer Demokratie« bewährte. So waren auch zahlreiche Akteure der Arbeiterbewegung (Hugo Haase, Karl Liebknecht, Paul Levi, Kurt Rosenfeld) aktive Anwälte, die den Klassenkampf vor Gericht ausfochten. Exemplarisch dafür waren der Königsberger Geheimbundprozess (Karl Liebknecht) sowie der Edenpalast-Prozess.

Hitler verliert die Beherrschung

Der letztgenannte Prozess wurde von Hans Litten (Spitzname: »Anwalt des Proletariats«) im Jahr 1931 geführt. Litten hatte sich in den 1920er einen Namen als regelmäßiger Vertreter von Arbeitern vor Gericht gemacht. In seiner Praxis zielte er einerseits darauf, einen Freispruch zu erwirken, andererseits auf die politischen Umstände der Tat bzw. des Tatvorwurfs aufmerksam zu machen. So auch im Edenpalast-Prozess: Im Kontext eines Überfalls von SA-Männern auf das Tanzlokal Eden in Berlin-Charlottenburg wollte Litten die dahinterliegende Strategie der NSDAP aufdecken und lud Adolf Hitler als Zeugen vor. Litten trieb ihn mit einer Goebbles-Schrift in die Enge und provozierte ihn derart, dass Hitler vor Gericht völlig die Beherrschung verlor. Noch Jahre später durfte der Name des Rechtsanwalts nicht in Hitlers Anwesenheit erwähnt werden. Doch dafür sollte Litten bitter bezahlen. In der Nacht des Reichstagsbrands wurde er verhaftet, 1938 starb er im Konzentrationslager Dachau.

Wie ihm erging es auch zahlreichen anderen jüdischen Anwälten, die durch das »Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft« vom 7. April 1933 Berufsverbot erhielten, nicht selten inhaftiert wurden oder sich ins Ausland absetzen mussten. Ein ähnliches Schicksal traf die juristischen Fakultäten: Die wenigen nichtkonservativen sowie jüdischen Rechtslehrer wurden von den Hochschulen vertrieben und durch Juristen mit »nationaler Orientierung« ersetzt. Diese nationalistischen Juristen waren damit betraut, den Naziterror rechtlich zu bemänteln und in Sachen Rechtslehre »1789« aus der deutschen Geschichte auszulöschen, also die Fortschritte seit der Französischen Revolution rückgängig zu machen.

Die meisten der neuen Professoren und Dozenten waren kaum älter als 30 Jahre und behielten ihre Stellen auch nach Ende der Naziherrschaft, teils bis in die 1960er Jahre hinein. Nach 1945 betonten die Rechtsgelehrten mit »nationaler Orientierung« die Unabhängigkeit der universitären Selbstverwaltung – eine Lehre aus dem »Dritten Reich« – und kehrten an ihre Lehrstühle zurück. 60 Prozent aller Lehrstühle an den juristischen Fakultäten waren unter den Nazis neubesetzt worden, dennoch blieb eine ehrliche Aufarbeitung aus (von wenigen Ausnahmen Anfang der 1950er abgesehen).

Von den durch die Faschisten vertriebenen Hochschullehrern wurden nur 17 Prozent wieder aufgenommen. Kritischen Juristen wie Wolfgang Abendroth oder Franz Leopold Naumann wurden Plätze an den Fakultäten verwehrt, statt dessen arbeiteten sie in der Politikwissenschaft. Die Deutschnationalen, die Konservativen und all die Opportunisten, die die Terrorherrschaft mitgetragen hatten, davon aber nichts mehr wissen wollten, kehrten zurück und prägten die Rechtstheorie des Bundesrepublik. Generationen von Studentinnen und Studenten haben, ohne es zu wissen, in ihren Arbeiten Juristen zitiert, die dem Faschismus ein rechtsstaatliches Gewand gegeben haben und von Terror und Unterdrückung profitierten, darunter Karl Larenz, Theodor Maunz, Arnold Köttgen, Hans Carl Nipperdey, Hans Welzel, Ernst Forsthoff, usw. usf. In der Folge wurde der Rechtpositivismus durch zahlreiche Konzepte aus dem »Dritten Reich« ergänzt, wie die »finale Handlungslehre« (Hans Welzel) oder auch reaktionäre Auslegungen der Grundrechte (Walter Hamel) und des Sozialstaatsprinzips (Ernst Forsthoff).

Marxistischer Gegenentwurf

Von dieser Restauration hat sich die deutsche Rechtswissenschaft bis heute nicht erholt. Zwar wird vermehrt Fachliteratur umgeschrieben, und es gibt vereinzelt Lehrstühle, auf denen auch kritische Perspektiven auf Rechtsfragen zugelassen werden, doch grundsätzlich hat sich an der herrschenden Rechtslehre wenig verändert. Dabei gab es damals und gibt es heute eine Alternative. Parallel zur bürgerlich-reaktionären Rechtstheorie entwickelte sich ein – allerdings zumeist ignorierter – politischer Gegenentwurf: die marxistische bzw. materialistische Rechtstheorie.

In Ermangelung eines umfassenden staatstheoretischen Werks von Karl Marx wurden die Grundsätze der marxistischen Rechtstheorie aus dessen Schriften zur politischen Ökonomie entwickelt. So leitete etwa Jewgeni Paschukanis den zwingend politischen Charakter des Rechts aus dessen Reflex der Warenform im bürgerlichen Staat ab. Bürgerliches Recht diene zur Absicherung der Klassenherrschaft, nicht nur als bloßes Repressionsinstrument (anders Karl Polak), sondern als ihre notwendige gesellschaftliche Form. Dieser Ansatz wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Nicos Poulantzas erweitert, der den Staat als gesellschaftliches Verhältnis und Austragungsort sozialer Kämpfe auffaste. Das Recht wäre daher als Ausdruck dieser Machtverhältnisse zu verstehen. Ähnlich argumentierte auch der Sozialist Wolfgang Abendroth, der Rechtsordnungen in Klassengesellschaften dialektisch auffasste: Recht stabilisiere zwar einerseits die Klassenherrschaft, stelle aber andererseits ein wirkmächtiges Instrument zur gesellschaftlichen Transformation dar. Als solches wäre es ständiges Objekt politischer Auseinandersetzungen.

Solche Perspektiven gehen der heutigen Rechtswissenschaft ab. Die Disziplin hat sich von ihrer eigenen Geschichte und ihren Akteuren bewusst entkoppelt und ist auf bloße Herrschaftssicherung ausgerichtet. Ihre Protagonisten sind daher außerstande, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisen unter einem rechtlichen Gesichtspunkt überhaupt zu verstehen, geschweige denn zu lösen.

Spyro Marasovic schrieb an dieser Stelle zuletzt am 20. November 2024 über die juristischen Probleme der Resolution gegen Antisemitismus: »Autoritär und undemokratisch«

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