Gegründet 1947 Donnerstag, 10. Juli 2025, Nr. 157
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 09.07.2025, Seite 16 / Sport
Literatur

Der mit den langen Haaren

Am Ball mit Peter Wawerzinek: Der autobiographische Roman »Streich, der Achim«
Von Ronald Kohl
imago823861253.jpg
Gut im Kirschkernweitspucken: Peter Wawerzinek

»Es verschießt keiner mit Absicht einen Elfmeter«, hat er noch Jahrzehnte nach dem größten Patzer seiner Karriere versichert, der Bomber der Nation Ost, unser »Strich«, der Achim. Genauso wenig, wie man absichtlich einen Elfer vergeigt, stellt sich ein Kind, das seinen neuen Eltern gefallen will, vorsätzlich blöd an. Eigentlich.

»Schach, sagt die Adoptionsmutter, sei das Spiel der Könige und Damen, Springer und Turmherren. Sie ist von der Idee angetan, dass der Stiefvater mich zu einem Schachgroßmeister forme.«

Ins Heim will der Ich-Erzähler in Peter Wawerzineks neuem Roman »Streich, der Achim« auf keinen Fall zurück. Heimkind zu sein, so hat es der Autor einmal beschrieben, war, als würde man beim Fußball auf der Bank sitzen. Wer Mannschaftssport kennt, erinnert sich vermutlich des Grolls, wenn dann ein anderer eingewechselt wurde. Und auch Wawerzinek fragte sich als Heimkind oft genug: Warum nehmen sie den mit und nicht mich?

Bei dem Lehrerehepaar, dessen Namen er bis heute trägt (noch zumindest) klappte es dann endlich. Nur will der Stiefvater beim Schachunterricht Fortschritte sehen. »Ich stelle mich zu dumm an.« (Absichtlich?) Alles Flehen der Adoptionsmutter, ihr Mann möge es weiterhin versuchen, hilft nichts. – »Ich bin das Schachspielen los.«

Wawerzinek ist nicht der erste, der einen Roman über seine Kindheit und Jugend schreibt und versichert, damals keinen Ehrgeiz gehabt zu haben. Meistens wollen die jungen Helden dann irgendwann aber doch den Mädchen imponieren und entdecken etwas Passendes. Bei Bukowski war es Baseball.

Auch Wawerzinek fand schließlich die eine Sache, die er besonders gut konnte, wo er Ausdauer entwickelte und es zur Perfektion brachte: »Ich bin gut im Kirschkernweitspucken.« (Kein Wort über die Treffsicherheit.)

Was sich als viel wichtiger für seine Entwicklung erweisen sollte, war etwas anderes: »Ich kann Topflappen aus der Pfanne heraus sehr hoch schleudern und mit ihr wieder auffangen. Diese Kunst hat mich die Großmutter der neuen Familie in der Küche gelehrt.«

Während seine Adoptionseltern nur die »Ersatzeltern« bleiben, hat die Großmutter einen Namen: Maria Stanke. »Sie redet so herrlich gegen den Sport, ist dabei witzig und bringt mich damit zum Lachen.«

In einem Punkt jedoch gleicht sie ihrem Schwiegersohn: Die Beschäftigung mit dem Kind muss etwas bringen, dessen Entwicklung vorantreiben: »Sie zwingt mich, kreativ zu sein.«

Mit ihr wird Fußball zur Nebensache, selbst wenn man ihn schaut. »Das Wort Balljunge lässt sie an das passende Ballmädchen für ihn denken.« (Wichtiger als der Ball sind Verballhornungen.)

Nach der linguistischen Erwärmung, den Wortspielen, sind wir bereit für das große Match. Der zweite Held betritt den Rasen: Jost. So heißt Wawerzineks neuer Schulfreund. So nennt er ihn zumindest. Und nur so kann er ihn nennen, weil Jost der größte Fan JOachim STreichs auf der ganzen Welt ist.

Das titelgebende Idol der beiden spielte zu der Zeit noch für Hansa Rostock, war nur wenige Jahre älter als sie und der erste an der ostdeutschen Ostseeküste mit langen Haaren. Das konnte er sich als Torgarant erlauben.

Später einmal haben ihn beide Nationaltrainer, unter denen er zu seinen über 100 Länderspielen aufgelaufen war, also Georg Buschner und Bernd Stange, unabhängig voneinander (Buschner sogar noch im DDR-Fernsehen) als »Leck-mich-am-Arsch-Typ« bezeichnet, weil Streich immer das getan hat, was er für richtig hielt. Dass er dabei selten falschlag, verdankte er seinem ausgeprägten Gespür für alles Kommende, auf dem Platz und im Leben.

Wawerzinek huldigt in dem Abschnitt seines Buches, den er »Zweite Halbzeit« nennt, der außergewöhnlichen Fähigkeit Streichs, zukünftiges Geschehen zu erahnen. Wobei es sich übrigens bei der »Zweiten Halbzeit« eher um den von Amateurkickern gerne als »dritte Halbzeit« bezeichneten Spielabschnitt handelt, also ums Saufen.

Hier sind Jost und Wawerzinek am Ball geblieben. Zudem hat Jost im Alter das Gärtnern für sich entdeckt. Er verbringt den gesamten Sommer auf seiner Scholle. Außer Hopfen baut er so ziemlich alles an.

Wenn Wawerzinek ihn besucht, trinken sie Whisky. Als Grundlage gibt es eine dunkellila Tomate. Die wirkt noch nach, als unser Peter wieder in seiner Berliner Fußballkneipe sitzt und Treffer im Fernsehen bejubelt, die erst Minuten später fallen sollen. Die wundersamen Kräfte des Gemüses steigern sich noch im Laufe des Abends. Wawerzinek vermag schließlich, ganze Spielergebnisse vorauszusagen. Von den Tomaten erzählt er seinen staunenden Freunden nichts. Er hat lieber ein Buch darüber geschrieben.

Peter Wawerzinek: Streich, der Achim. Voland & Quist, Berlin 2025, 88 Seiten, 12 Euro

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.