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Aus: Ausgabe vom 08.07.2025, Seite 12 / Thema
Kirchengeschichte

Einheitspapst

Mit Robert Francis Prevost wurde ein Kompromisskandidat gewählt. Wird er als Leo XIV. den Weg seines Vorgängers fortsetzen? Zweifel sind angebracht
Von Gerhard Feldbauer
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Rückkehr zur Tradition: Papst Leo XIV. trägt wieder die rote Mozzetta. Sein Vorgänger hatte als Zeichen von Bescheidenheit nur die weiße Soutane getragen (Rom, 20.5.2025).

Seit seiner offiziellen Amtseinführung am 11. Mai ist Robert Francis Prevost als Papst Leo XIV. Oberhaupt der katholischen Kirche und zugleich Staatsoberhaupt des Vatikanstaats. Nach nur vier Wahlgängen, einem weniger als bei der Wahl seines am 21. April verstorbenen Vorgängers Franziskus, war er am 8. Mai bereits am zweiten Tag des Konklave zum 267. Pontifex der weltweit rund 1,4 Milliarden Katholiken gewählt worden. Wie aus Vatikankreisen bekannt wurde, stimmte eine große Mehrheit der 133 wahlberechtigten Kardinäle für ihn. Auffällig war, dass aus dem Kreis der Kardinäle noch vor Beginn der Abstimmung von einem kurzen Konklave, das ein Zeichen der Einheit der katholischen Kirche setzen werde, die Rede war.

Mit dem 1955 in Chicago geborenen Prevost kommt erstmals ein US-Amerikaner auf den Heiligen Stuhl. Er hat Eltern mit französischen, spanischen, italienischen und kreolischen Wurzeln und besitzt auch die Staatsbürgerschaft Perus, wo er lange Jahre als Missionar tätig war. 2015 hatte ihn Franziskus zum Bischof von Chiclayo, einer Diözese im Norden des Andenstaates, ernannt. Dort feierte die Bevölkerung seine Wahl zum Papst stürmisch – in Erinnerung an seine Aktivitäten gegen die staatliche Repression, gegen Todeskommandos und das Regime des korrupten ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori.

Bischof von Chiclayo war Prevost bis zu seiner Ernennung zum Kardinal 2023 gewesen. In dieser Zeit habe er sich auch dem ultrakonservativen »Sodalicio de Vida Cristiana« entgegengestellt – einer Organisation aus Laien und Priestern, die über Jahrzehnte junge Männer sexuell misshandelte und der bäuerlichen Bevölkerung Tausende Hektar Land raubte. Während viele Bischöfe wegsahen oder gar mit der reaktionären Clique paktierten, habe Prevost den Widerstand der Landbevölkerung gestärkt, Berichte über sexuelle Gewalt nach Rom geleitet und schließlich mit dafür gesorgt, dass Papst Franziskus die Organisation eine Woche vor seinem Tod, am 14. April 2025, endgültig auflöste. Vorwürfe des »Survivors Network of those Abused by Priests« (Netzwerk von Opfern, die von Priestern missbraucht wurden), er habe Fälle nicht konsequent verfolgt, wies Prevost zurück. Er führte an, dass er 2022 eine kanonische Voruntersuchung wegen Missbrauchsvorwürfen gegen zwei Priester der Diözese Chiclayo eingeleitet und in der linksliberalen peruanischen Zeitung La República verkündet hatte: »Wenn Sie Opfer von sexueller Gewalt durch einen Priester sind, melden Sie es.« Laut Diözesangaben wurden die Ergebnisse der Untersuchung im Juli 2022 an das ­Dikasterium für die Glaubenslehre weitergeleitet, das jedoch – wie die staatlichen Behörden Perus – eine unzureichende Beweislage bemängelte.

Signale der Eintracht

Angesichts dieser Vita gilt Prevost als Kompromisskandidat, mit dem die Wahl eines reaktionären Kandidaten verhindert worden sei, wie sie manche Teile des Klerus und politische Kreise verfolgt hatten – etwa in den USA, wo bereits das Pontifikat von Franziskus der Trump-Regierung ein Dorn im Auge war. Allerdings konnten die USA selbst nur auf zehn Kardinalwahlmänner zählen. Prevost hatte sich vor seiner Wahl von Positionen des US-Präsidenten, unter anderem in der Migrationsfrage, distanziert. Zur Wahl gratulierte ihm Donald Trump zwar, bei der Amtseinführung ließ er sich dann aber von seinem Vizepräsidenten J. D. Vance vertreten.

Die Mehrheit der Kardinäle habe – so Vatikan News – für Prevost gestimmt, um ein Signal der Einheit zu setzen und den Ausbruch kirchenpolitischer Gegensätze zu verhindern. Das Mitteilungsblatt verwies darauf, dass Franziskus Prevost 2023 zum Präfekten des Dikasteriums für die Bischöfe, das dem Papst die Berufung neuer Kardinäle vorschlägt, ernannte. Das wurde so gedeutet, dass Franziskus selbst ihm den Weg bereitet habe, sein Nachfolger zu werden, da man über die Berufung der Kardinäle Einfluss darauf hat, wer in der Zukunft den Papst wählt. Bei dem großen Vertrauen, dass der alte Papst in Prevost setzte, könnte es eine Rolle gespielt haben, dass dieser wie Franziskus in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs, nämlich in einem unscheinbaren Einfamilienhaus von knapp 70 Quadratmetern in Dolton, einem Vorort von Chicago.

Maßstab Franziskus

Als Franziskus am 13. März 2013 gewählt wurde, befand sich die katholische Kirche in einer tiefen Krise, in die sie ihre erzreaktionären Oberhäupter – der Pole Karol Wojtyła alias Johannes Paul II. und sein Nachfolger, der deutsche Papst Benedikt XVI. – gestürzt hatten. Jahr für Jahr verließen Hunderttausende Menschen die Kirche, allein 2012 waren es in Deutschland rund 118.000. Franziskus gelang es nicht nur, diesen Mitgliederschwund zu stoppen, sondern – wie die Jahresstatistik des Vatikans ergab – 2022 weltweit einen Anstieg um ein Prozent zu erreichen, womit die Zahl der Katholiken auf 1,406 Milliarden anstieg. Aus Afrika, wo es einen Zuwachs um drei Prozent auf 273 Millionen gab, stammt mittlerweile etwa jeder fünfte Katholik. In Asien leben inzwischen elf Prozent aller getauften Katholiken: mehr als drei Viertel davon in Indien und auf den Philippinen. Damit festigte Franziskus die Stellung der katholischen Kirchen als größte Religionsgemeinschaft der Welt, die auf allen Kontinenten präsent ist.

Grundlage dieses Erfolgs war sein Eintreten für Frieden und Völkerverständigung. Zwar hielt er am Zölibat fest, brach aber in vielen Fragen mit reaktionären Traditionen. Im Stile der Befreiungstheologie Lateinamerikas kritisierte er die Auswüchse des Kapitalismus und widmete sich den von diesem System ausgegrenzten und unterdrückten Menschen. Vor allem aber hatte er am 28. September 2013 eine Arbeitsgruppe – offiziell als »Kardinalsrat« und »ständiges Beratungsorgan« – gebildet, mit dem er, wie der Vatikankenner Marco Politi schrieb, Voraussetzungen schaffen wollte, »das Modell einer absoluten Monarchie zu überwinden und der Kirche eine gemeinschaftliche Struktur zu geben, in der die Episkopate mitentscheiden können, welche Strategien die Kirche in der gegenwärtigen Epoche verfolgen soll und wie der Glaube in der heutigen Gesellschaft gelebt werden kann«.

Während Leo XIV. die Einheit der Kirche – offensichtlich auch durch Versöhnung mit den Konservativen – anstrebt, trat Franziskus den reaktionären Kreisen im Klerus so gut es ging entgegen. Zuletzt hatte er am 24. Juni 2024 mit der Ernennung Kardinal Georg Gänseweins zum Apostolischen Nuntius für Litauen, Estland und Lettland – was faktisch einer Abschiebung gleichkam – nochmals ein Zeichen gesetzt. Zuvor hatte er ihn bereits ohne feste Aufgabe in dessen Heimatbistum Freiburg verbannt. Damit drängte Franziskus den Einfluss des klerikalfaschistischen Opus Dei (Gotteswerk) im Vatikan zurück. Benedikt hatte nicht nur Opus Dei gefördert, sondern auch Gänsewein, eines der führenden Mitglieder der Vereinigung, zu seinem Privatsekretär ernannt.¹

Widersprüche

Auch wenn sich Leo XIV. nach Kräften bemüht, den Eindruck zu vermitteln, dass er am Kurs seines Vorgängers festhalten will, sind Differenzen nicht zu übersehen, auch wenn sie sich vorerst nur in Nuancen abzeichnen. In seiner ersten Ansprache nach der Wahl zum Papst sagte er den Zehntausenden Gläubigen, die ihn auf dem Petersplatz stürmisch feierten: »Der Friede sei mit euch allen!« Dieser Friedensgruß sollte die Herzen durchdringen, alle Menschen, alle Völker und die ganze Erde erreichen, kommentierte Vatikan News. Er erinnerte an seinen Amtsvorgänger, sagte »Danke, Papst Franziskus!« und versicherte, dessen Segen weiterzuführen. Die offizielle Amtseinführung Prevosts am 11. Mai in einer feierlichen Messe mit 200 Kardinälen, 740 Bischöfen, 30 ökumenischen Delegationen, Zehntausenden Gläubigen und annähernd 200 ausländischen Gästen machte den Eindruck eines gut organisierten Spektakels, das demonstrieren sollte, dass der neue Papst an Grundsätzen seines Vorgängers festhalte. Franziskus bevorzugte allerdings meist eine unaufdringlichere Art des Auftretens.

Vor dem eigentlichen Gottesdienst war Prevost mit dem weißen »Papamobil« über den Petersplatz gefahren und hatte ein Bad in der Menge genommen, die ihn mit Rufen (»Lang lebe der Papst«) begrüßte. Auch in den umliegenden Straßen konnte die Zeremonie auf Großbildleinwänden verfolgt werden. Danach hatte der Papst mit den Oberhäuptern der orthodoxen Kirchen das Petrusgrab unter dem Petersdom besucht. Die päpstlichen Insignien als Zeichen seiner Amtsausübung, die Franziskus sich dort, wie üblich, hatte überreichen lassen, nahm Leo XIV. demonstrativ erst während der Messe auf dem Domplatz vor den Massen entgegen: zunächst das Pallium, eine weiße, mit roten Kreuzen bestickte Stola aus Schafswolle, die die Einheit der Kirche und die pastorale Rolle des Papstes als Bischof von Rom symbolisieren soll. Dann den eigens für ihn neu angefertigten Fischerring, der an den Apostel Petrus, der Fischer von Beruf war und Menschenfischer genannt wurde, erinnern soll. (Jeder Papst hat einen eigenen Fischerring; Franziskus’ Ring wurde nach seinem Tod zerstört.) Ein kaum wahrgenommener Fakt war, dass Prevost sich wieder im traditionellen päpstlichen Gewand mit der roten Mozzetta kleidete, das Franziskus nicht mehr getragen hatte. Das sind keine Nebensächlichkeiten: Die Gewänder spielen eine wichtige Rolle in der katholischen Kirche und dienen auch der Demonstration von Glanz und Macht.²

In seiner Predigt in italienisch hob Leo XIV. einleitend Bescheidenheit hervor: »Ich wurde ohne jegliches Verdienst ausgewählt und komme mit Furcht und Zittern zu euch.« Danach kam er auf sein zentrales Thema, die Einheit der Kirche, zu sprechen und bat die Gläubigen, dafür zu wirken. Eine geeinte Kirche sei sein »größter Wunsch«, womit er appellierte, Richtungskämpfe zwischen Reformern und Konservativen zu überwinden. Möglicherweise wollte sich der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella am Einheitsappell des Papstes ein Vorbild nehmen, als er zum 79. Jahrestag der Italienischen Republik am 2. Juni zu »Einheit und Harmonie« zwischen der Mitte-Links-Opposition und der faschistischen Meloni-Regierung aufrief.

An seinen Vorgänger knüpfte Leo XIV. insofern an, als er auch die Folgen von Kapitalismus und Machtgier geißelte: »In unserer Zeit erleben wir noch immer zuviel Zwietracht, zu viele Wunden, die durch Hass, Gewalt, Vorurteile, Angst vor dem Anderen und durch ein Wirtschaftsmodell verursacht werden, das die Ressourcen der Erde ausbeutet und die Ärmsten an den Rand drängt.« Ob er wie Franziskus die konkrete Forderung »Tax the Rich« aufgreifen wird, ist allerdings offen.

Frauenfrage und Krieg

Beim genaueren Hinsehen sind weitere Unterschiede zu Franziskus nicht zu übersehen. 2023 äußerte Prevost sich auf der Weltsynode zur Synodalität mit Bezug auf die Frauenordination skeptisch und meinte, dass sie »nicht unbedingt ein Problem löst, sondern vielleicht ein neues Problem schafft«.³ Franziskus hatte erstmals Frauen zur Synode zugelassen, das Abschlussdokument »interpretationsoffen« genannt und die Hoffnung vermittelt, dass vieles sich ändern könne. Zum Thema Frauendiakonat hatte er erklären lassen, dass es »nicht vom Tisch ist« und weiter diskutiert werde. Außerdem könne jeder Katholik und jede Katholikin bei zehn synodalen Studiengruppen, die sich mit dem Frauendiakonat und anderen Fragen beschäftigen, Vorschläge einreichen. Zur Bekräftigung dieses Anliegens sollte die mittelalterliche Äbtissin und Gelehrte Hildegard von Bingen mit einem eigenen Gedenktag bedacht werden.

Dem österreichischen Historiker Gerhard Oberkofler fiel auf, dass von Leo XIV. bisher die Märtyrer der Befreiungstheologie in Lateinamerika, wie etwa der Peruaner Gustavo Gutiérrez, in der Öffentlichkeit übergangen werden.⁴ Franziskus hatte Gutiérrez 2018 anlässlich dessen 90. Geburtstages in einem Brief noch für dessen Dienst an der Kirche und der Menschheit sowie für dessen Liebe zu den Armen und Ausgestoßenen der Gesellschaft gedankt. Den führenden Befreiungstheologen, den von faschistischen Todesschwadronen im März 1980 ermordeten Erzbischof von San Salvador, Óscar Arnulfo Romero, der offen den bewaffneten Kampf der Befreiungsbewegung Farabundo Martí unterstützt hatte, hatte Franziskus 2015 selig- und 2018 heiliggesprochen.

Auch in der großen Politik deuten sich Unterschiede an. Franziskus hatte beispielsweise die russische Eingliederung der Krim per Referendum wie auch den Angriff auf die Ukraine nicht verurteilt. Leo XIV. bezeichnete Russlands Krieg als eine »echte Invasion«, die imperialistischer Natur sei und bei der Russland versuche, aus Machtgründen »Territorium zu erobern«.⁵ In Bezug auf Israels Völkermord in Gaza beschränkte er sich dagegen bisher darauf, einen Waffenstillstand zu fordern. Bei einer Audienz für Journalisten rief er immerhin allgemein zu einer am Frieden orientierten Berichterstattung auf und versicherte den Journalisten, »die wegen ihrer Suche nach der Wahrheit und ihrer Berichterstattung im Gefängnis« saßen, der Solidarität der Kirche und forderte ihre Freilassung.

Zugleich nutzt Leo XIV. jede sich bietende Gelegenheit, seine Verbindung mit dem einfachen Volk zu demonstrieren. So bestand er zu einer Audienz am 24. Mai darauf, dass auch Familienangehörige mitkommen und jeder eingeladen werde, der im Vatikan arbeitet. Vom Kardinal bis zur Reinigungskraft kamen gut 5.000 Menschen zusammen, vor denen er scherzte: »Päpste kommen und gehen, die Kurie aber bleibt.« Vorher hatte er die von seinem Vorgänger abgeschaffte »Konklaveprämie« wieder eingeführt. Alle Vatikan-Angestellten erhielten zur Papstwahl einen Bonus von 500 Euro.

In schlechter Tradition

Bemerkenswert war, dass an der Amtseinführung Vertreter der Ostkirchen, wie der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomäus I., teilnahmen. Auch der Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Roms, Riccardo Di Segni, kam mit 15 jüdischen Vertretern. Ihm hatte der neue Papst ausdrücklich mitgeteilt, die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Zusammenarbeit mit dem jüdischen Volk im Geiste des »Nostra Aetate« der Erklärung zur Haltung der katholischen Kirche zu nichtchristlichen Religionen von 1965 – zu wahren. Damit geht er auf Distanz zu seinem Vorvorgänger Benedikt XVI., der diese Beschlüsse abgelehnt hatte.

Fragwürdig ist dagegen die Haltung Leos XIV. zu anderen Vorgängern. Am 30. Mai hatte er während eines Besuchs in der päpstlichen Resistenz Castel Gandolfo am Kryptoportikus – den archäologischen Überresten der Audienzhalle des Kaisers Domitian – Halt gemacht. Er sagte, er wolle an das mutige Handeln von Papst Pius XII. erinnern, der 1944 im Zweiten Weltkrieg über 12.000 Menschen vor der Bombardierung in den Castelli Romani Zuflucht gewährt habe. Pius XII. hatte jedoch in seiner Funktion als Kardinalstaatssekretär seines Vorgängers Pius XI. 1933 auch das Reichskonkordat mit Hitler abgeschlossen. Als Papst hatte er im März 1939 das faschistische Franco-Regime in Spanien als »uneinnehmbares Bollwerk des katholischen Glaubens« bezeichnet. Nach dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 wollte er das faschistische Regime in Italien erhalten, und er ließ nach 1945 die Flucht Zehntausender Faschisten nach Südamerika organisieren. Schwer wiegen besonders die Vorwürfe, Pius XII. habe die ihm von dem späteren Papst Johannes XXIII. im Jahr 1944 übermittelten Informationen über die Greuel in Auschwitz ignoriert. Die Informationen stammten von zwei Juden, die im April 1944 aus Auschwitz fliehen konnten, und deren Berichte später Teil der »Protokolle von Auschwitz« wurden.⁶

All dies lässt die Würdigung seitens Leos XIV. in zweifelhaftem Licht erscheinen. Ob sich der neue Papst sogar die von reaktionären Kreisen des Vatikans betriebene, aber bisher ergebnislose Seligsprechung Pius XII. vorantreiben will, ist noch offen. Womöglich besteht allerdings, obwohl es auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt, zwischen dem versöhnenden Bekenntnis zu »Nostra Aetate« und der lobenden Erwähnung Pius XII. ein Zusammenhang. Leo XIV. könnte darauf zielen, dass Israel in der Frage einer möglichen Würdigung von Pius XII. in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem nachgibt. Bislang war dem ehemaligen Papst diese Ehre versagt geblieben, während sie beispielsweise Johannes XXIII. gewährt wurde.

Unklar ist bisher auch, wie Leo XIV. sich zum israelischen Genozid am palästinensischen Volk verhalten wird, den Papst Franziskus wiederholt eindeutig und scharf verurteilt hat. Gerhard Oberkofler mahnt, Leo XIV. solle die Kritik seines US-amerikanischen Landsmanns Noam Chomsky aufgreifen, der wiederholt dargestellt hat, dass Israel keine Zweistaatenlösung, sondern die Vernichtung Palästinas anstrebe.

Nomen est omen?

Prevosts Namenswahl geht auf Leo XIII., der von 1878 bis 1903 als Papst amtierte, zurück. Der war ein Gegner der Arbeiterbewegung. Dennoch versichert Prevost, ihm gehe es um »soziale Gerechtigkeit, technologische Verantwortung und eine Kirche, die Hoffnung spendet in einer Welt im Wandel«. Auch die in seiner Predigt nach der Amtseinführung geübte Kapitalismuskritik zielt in dieselbe Richtung.

Natürlich ist bei aller Kapitalismuskritik nicht zu erwarten, dass ein Papst die Herrschaft des Kapitals beseitigen und eine von Ausbeutung befreite Gesellschaft fördern will. Selbst Johannes XXIII., in dem Franziskus sein Leitbild sah, thematisierte mit seiner Enzyklika »Mater et magistra« (Mutter und Lehrmeisterin), nur Fragen von »Christentum und sozialem Fortschritt« und wollte lediglich eine vorsichtige Reform einiger überholter Leitsätze der von Leo XIII. erlassenen katholischen Soziallehre einleiten, welche die »unerbittliche Hütung des Privateigentums« postuliert hatte. Natürlich trat Johannes XXIII. nicht für die Beseitigung des Privateigentums ein, er setzte aber immerhin neue Akzente. Seine Enzyklika ging auf die Ärmsten in den Industrienationen ebenso wie auf die noch Ärmeren in den Ländern des globalen Südens ein, wo es damals noch viele Kolonien gab.

Johannes XXIII. forderte soziale Gerechtigkeit, die er als Teilnahme aller Menschen am Wohlstand definierte, und betonte das Recht auf Mitbestimmung am Arbeitsplatz. Er gebrauchte den Begriff der »Sozialisation« und nannte ihn »Ausdruck eines sozusagen unwiderstehlichen Strebens der menschlichen Natur; des Strebens, sich mit anderen zusammenzutun, wenn es darum geht, Güter zu erlangen, die von den einzelnen begehrt werden, jedoch die Möglichkeiten und Mittel des einzelnen überschreiten«. Solche Gedanken hatten die meisten Parteien, selbst die sozialdemokratischen, zu dieser Zeit bereits aufgegeben. Dass Leo XIV. diese progressive Tradition fortsetzt, darf trotz seiner kapitalismuskritischen Aussagen als eher unwahrscheinlich gelten.

Anmerkungen

1 Hubertus Mynarek: Die neue Inquisition. Marktheidenfeld 1999; ders.: Casanovas in Schwarz. Essen 2001

2 Hubertus Mynarek: »Ratzinger und das biologische Wunder der Kirche«, Neues Deutschland, 15./16. 4.2006

3 Catholic News Agency, 27. 10.2024

4 Wiener Zeitung der Arbeit, 1.6.2025

5 CBS News, 10.5.2024

6 Vgl. die spanische Zeitschrift Historia y Vida (2007), Nr. 467

Gerhard Feldbauer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 25. April 2025 über die Befreiung Norditaliens durch Partisanen: »Bewundernswerte Operation«

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  • Leserbrief von Oposchewsky (9. Juli 2025 um 06:33 Uhr)
    Dieser Artikel könnte auch in der Gala oder in Neue Reveu stehen. Welches Kleidungsstück er trägt und wo er mit dem Papamobil anhält, wird als bedeutsam im langen Text kulturgeschichtlich gedeutet. Mir fällt auf, dass die ökonomische Seite nicht beleuchtet wird. Franziskus hat das Finanzwesen der Kirche einer großen Revision unterzogen. Es gibt etliche Artikel, die dies beleuchten. Ich habe mal in die Suchmaske eingegeben. Er ist ein CEO, der Glauben verkauft und Milliarden umsetzt. Das Anprangern der Armut, Kritik am Kapitalismus und die Homestory der letzten beiden Päpste, die aus einfachen Verhältnissen stammen und in Armenvierteln tätig waren, dient nur der Imagepflege.

Dieser Artikel gehört zu folgenden Dossiers:

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