»Kainsmal der Eroberer«
Von Ingar Solty
Die 2002 verstorbene langjährige Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff wird oft für ihren Beitrag zur Aussöhnung von Polen und Deutschen gelobt. In bezug auf die »verlorenen Ostgebiete« stand sie jedoch auf der Position: »Gewaltverzicht: ja, Territorialverzicht: nein«. Auch nach Faschismus und Vernichtungskrieg hielt sie den Anspruch auf den »deutschen Osten« aufrecht. Dabei ist dieser nicht abstrakt, sondern bezieht sich ganz konkret auf das Dönhoffsche Familienerbe. Die Gräfin war der jüngste Spross eines Adelsgeschlechts mit 700jähriger Geschichte.
Das Gebiet zwischen Weichsel und Memel, das später die preußische Provinz Ostpreußen bildete, wurde ursprünglich von den Prußen (oder Pruzzen) besiedelt. Dabei handelte es sich um einen litauischsprachigen Baltenstamm im letzten nichtchristianisierten Teil Europas. Über ihre Lebensweise ist wenig bekannt. Sie kannten keine Schrift, entsprechend quellenarm ist ihre Geschichte. Als »Heiden« huldigten sie den Göttern Perkunos, Potrimpos und Pikollos. An ihren Kultstätten wie dem Baumheiligtum Romowe mit seinem ewigen Feuer brachten sie ihnen Opfer dar. »Unsere heidnischen Vorfahren«, schreibt Carl-Friedrich von Steegen über »Ostpreußens Vorgeschichte«, »verehrten Sonne, Mond und Sterne, und Donner, Blitz und Wolkenbruch jagten ihnen heilige Schauer über den Rücken. Aus den Bewegungen und dem Schnauben weißer und schwarzer Rosse lasen sie die Zukunft, kinderlose Frauen erhofften sich Fruchtbarkeit von heiligen Schlangen, Kröten wurden verehrt als Hüter der Gesundheit und Helfer gegen Krankheit und Schmerz. Auch die Eule war den Prußen Schutzpatron und Götterbote, der vor Not und Unheil warnte.«
Tod oder Taufe
Dieses Unheil zog im 13. Jahrhundert auf. 1095 hatte Papst Urban II. zur Eroberung Palästinas aufgerufen. Den Kreuzrittern gelang vier Jahre später die Einnahme Jerusalems. 1187 aber erlitten sie eine Niederlage. Jerusalem wurde von Saladin und den Muslimen zurückerobert. Der sich daran anschließende Dritte Kreuzzug ab 1189 misslang. Kurz darauf gründete sich der Deutschherrenorden, dessen kreuzzüglerische Kolonialabsichten sich nach der Vertreibung aus Palästina auf Osteuropa richteten. Kaiser Friedrich II. gab das Versprechen: Alles Land, das er erobert, sollte ihm gehören. Auch der Papst gab seinen Segen. Bald eroberte der Orden das Prußenland. 1230 wurden erste Teile als Kolonialstaat anerkannt. Der Deutschordensstaat zog Kreuzzügler aus ganz Europa an. Einer von ihnen war der spätere englische König Heinrich IV.
Zum Schutz seiner Siedlungen übernahm der Deutsche Orden vor allem im küstennahen nördlichen und westlichen Teil des späteren Ostpreußens sowie bis hinauf zum Finnischen Meerbusen 26 eroberte Burgen. Auch errichtete er – zumeist in roter Ziegelsteinbauweise – eigene mächtige Befestigungen, unter anderem in Tilsit (Sowetsk) und Malbork (Marienburg) in der Nähe von Danzig (Gdańsk), wo sich auch der Regierungssitz des Deutschordens befand.
In den Worten des nationalliberalen Historikers und Vordenkers des deutschen Imperialismus Heinrich von Treitschke waren die Burgen »ein fester Hafendamm, verwegen hinausgebaut vom deutschen Ufer in die wilde See der östlichen Völker (…), Stützpunkte für das weitere Vordringen«. Sie hätten die Prußen gezwungen, »sich in hellen Haufen gegen diese Burgen zu scharen«, wodurch »der berittene Deutsche der Gefahr des kleinen Krieges« entgangen sei, der »in diesem Lande der Wälder und Sümpfe unrettbar ins Verderben« geführt hätte.
Bis Ende des 13. Jahrhunderts wurden die alten baltischen Stämme – neben den Prußen die Galinder, Sudauer und Kuren – in mehreren Aufständen niedergeschlagen und nach dem Prinzip »Tod oder Taufe« christianisiert. Für sie sei der »Einbruch« der Ordensritter »ein schreckliches Vergewaltigungserlebnis« gewesen, urteilte Sebastian Haffner. »Wildfremde brachen schwerbewaffnet und grundlos ins Land, verlangten in unverständlicher Sprache Unverständliches und töteten, wo sie nicht prompten Gehorsam fanden.« Selbst in der Darstellung Treitschkes lebten die Prußen bis zur Ankunft der Ordensritter »als ein still friedliches Volk von Hirten und bequemen Ackerbauern«. Ihr Land aber »galt«, wie Hans-Joachim Schoeps schrieb, »als herrenlos«.
Der Chronist der Deutschordensritter, Peter von Dusburg, machte aus seinem Herzen keine Mördergrube: »Dort verschlang das geschwungene Schwert der christlichen Ritterschaft das Fleisch der Ungläubigen, hier schlug ihr Speer blutige Wunden, und so wurde ein großes Blutbad unter dem Volk der Prußen angerichtet.« »Den christlichen Rittern«, schrieb der in Königsberg geborene Feuilletonchef der Stuttgarter Zeitung, Wolfgang Ignée, »war die Vernichtung der aufrührerischen Heiden (…) eine Art Gottesdienst (…). Sie brannten die prußischen Dörfer nieder und schleppten alle Habe fort. Die Männer waren dem Tod verfallen, die Frauen und Kinder wanderten in die Sklaverei.« Der Papst aber sprach die Kreuzritter von jeder Buße frei.
Der Siedlerkolonialismus des Deutschen Ordens war ein Genozid, kaum anders als der der Spanier in Zentral- und Südamerika nach 1492. Mit Ausnahme der Galinder, die im Gebiet zwischen Allenstein (Olsztyn) und Johannisburg (Pisz) siedelten, wurde die zwischen 120.000 und 170.000 Menschen zählende Bevölkerung weitgehend ausgerottet. Nur ein kleiner Teil der Unterworfenen assimilierte sich. Der letzte Mensch, der noch Prußisch sprach, soll 1677 gestorben sein.
Der Genozid wurde weithin gerechtfertigt. Die »deutschen Ritter«, schrieb der 1893 in Königsberg geborene Historiker Fritz Gause, hätten das Land »der Geschichtslosigkeit entrissen«. Die Prußen hätten die Christianisierung eigentlich herbeigesehnt, um sie von »habgierigen und hartherzigen« Herrschern wie dem Kamswikus zu befreien, argumentierte Erich von Lojewski, denn der »heidnische Glaube erlaubte«, im Gegensatz selbstverständlich zum Christentum, »unumschränkt und willkürlich zu herrschen«.
Unrecht nur andernorts
»Schön und gut«, schrieb der Schriftsteller Max Fürst, aber warum habe dann »dieses unvernünftige Volk Aufstände dagegen gemacht?« Im Geschichtsunterricht sei ihnen, erinnerte sich der 1905 in Königsberg geborene Sozialist an seine Gymnasialzeit, »zwar das Unrecht erklärt« worden, »das die Amerikaner den Indianern angetan hatten, wir begeisterten uns an Wilhelm Tells Befreiung der Schweizer vom österreichischen Joch, aber der Untergang der Pruzzen war von ›Gott gegeben‹, und Litauer und Polen waren falsch und dreckig«. »Zucht und Ordnung strahlten vom Orden aus, und seine Macht erfüllte das Herz des Kindes, dessen Phantasie die Weißmäntel oft wie Schwäne über den Himmel der Heimat ziehen sah. So sehr ich die Pruzzen liebte, ich begriff, dass mit den Weißmänteln das Höhere gekommen war, dem sie weichen mussten«, hallt der herrschende Geist der Zeit auch in den Kindheitserinnerungen der späteren völkischen Schriftstellerin Agnes Harder nach. Dabei mischt sich in die Erinnerung an den »Vernichtungskrieg« von einst schon die Vorfreude auf den von morgen: »Litauer und Polen waren mir Todfeinde von Kind auf und sind es bis heute.« »Der Ritterorden«, schrieb sarkastisch der 1874 im ostpreußischen Klein Schläfken (Sławka Mała) geborene Schriftsteller Robert Budzinski, habe »langsam Ordnung und Ruhe« ins Land gebracht, »und zwar vollständigste, indem er (…) das ganze Preußenvolk ausrottete«.
Der aus dem ostpreußischen Groß Stürlack (Sterławki Wielkie) stammende Rudolf Nadolny, später Büroleiter von Reichskanzler Friedrich Ebert, verglich die lokale Bevölkerung in seiner Autobiographie mit der expansionistischen Grenzlandbevölkerung der USA: »Seine Einwohnerschaft«, schrieb er, »stammt in derselben Weise von Einwanderern aus vielen Ländern, die im 13. und 14. Jahrhundert dem Ruf des Deutschen Ritterordens folgten oder auch noch später einwanderten oder dort angesiedelt wurden. Nur dass die noch im Lande verbliebenen alten Preußen keine Rothäute waren.«
Die Namen bleiben
Was von den hiesigen »Rothäuten« blieb, sind Begriffe, Nach- und Ortsnamen. Die ostpreußischen Landarbeitermädchen, die sich bis 1945 ab dem Alter von 14 Jahren bei den Dönhoffs und anderen Rittergutsbesitzern und Großbauern als Dienstmädchen, Köchinnen, Waschfrauen und Erntehelferinnen verdingen mussten, nannte man »Marjells« oder »Marjellchen«, was auf das prußische Wort »Mergo« für »Jungfrau« zurückgeht. Die Prußen, die sich assimilierten, erkennt man bis heute an der Namensendung »-eit«: Grigoleit, Schneidereit, Adomeit – sie alle sind Nachfahren der Überlebenden. Viele der kuriosen Ortsnamen verraten nicht nur polnische, sondern auch prußische Ursprünge. Groß und Klein Stürlack etwa stammen von »Styrlack« ab und verweisen auf den in Ostpreußen häufigen Wortstamm »Lauch/Lauk/Lauken/Laak/Lack/Lacken«, der auf das prußisch(-litauische) Wort für »Feld« zurückgeht.
Auch blieben Erinnerungen. Etwa in Zacharias Werners Tragödie »Das Kreuz an der Ostsee« (1768) oder Alfred Brusts Roman »Die verlorene Erde« (1926). Und in den Gedichten Johannes Bobrowskis, 1917 in Tilsit geboren, der schreibt: »Namen reden von dir, / zertretenes Volk, Berghänge, / Flüsse, glanzlos noch oft, / Steine und Wege – / Lieder abends und Sagen, / das Rascheln der Eidechsen nennt dich / und, wie Wasser im Moor, / heut ein Gesang, vor Klage / arm – / arm wie des Fischers Netzzug, / jenes weißhaarigen, ew’gen / am Haff, wenn die Sonne / herabkommt.«
Der wichtigste bleibende Name ist indes der des vernichteten Volkes selbst. Der Deutschordensstaat bildet die Keimzelle des späteren Königreichs Preußen, das nach einer Reihe von Kriegen 1871 den ersten deutschen Nationalstaat, das Kaiserreich, begründete. »So trug«, schreibt der Schriftsteller Heinz Georg Podehl, »dieses Land Preußen seinen Namen auch als Kainsmal der Eroberer«.
Seine Eroberungszüge, die sich bald gegen die christlichen Polen und Litauer richteten, finanzierte der Orden, indem er sich das Monopolrecht nicht nur für den Zuchtpferdehandel, sondern auch für Schürfung und Verkauf von Bernstein sicherte. Letzterer durfte zuvor noch frei von jedermann aufgelesen werden. Um das Monopol durchzusetzen, ließ man aus Gründen der Abschreckung »Bernsteinsammler aufhängen« und unbestattet am Galgen baumeln.
Der Deutschordensstaat erreichte kurz nach der Wende zum 15. Jahrhundert den Höhepunkt seiner territorialen Ausbreitung: von der Neumark am östlichen Oderufer bis nach Reval (heute Tallinn) am Finnischen Meerbusen. Im Jahre 1410 aber erlitt er in der »Schlacht bei Tannenberg« eine schwere militärische Niederlage gegen eine Allianz des polnischen Königs und des litauischen Großfürsten. Das 27.000 Mann starke Heer Ulrich von Jungingens, des Hochmeisters des Deutschen Ordens, unterlag dem 39.000 Männer zählenden polnisch-litauischen Heer. »In den christlichen Zeiten, seit den Kämpfen der Römer und Goten mit Attila und der Kriege mit den Arabern«, schrieb der polnische Schriftsteller Henryk Sienkiewicz, »hatten so mächtige Heere nicht miteinander gekämpft. Jetzt aber lag eines von ihnen (…) wie eine niedergemähte Getreideflur danieder.«
Das Ergebnis der Niederlage war 1411 der erste Frieden von Thorn. Damit verbunden waren Tributzahlungen in Höhe von 260.000 Gulden. Sie leiteten den Nieder- und schließlich Untergang des Deutschordensstaats ein. Die Steuerlast verstärkte die Autonomiebestrebungen der freien Städte Danzig und Elbing. Im zweiten Thorner Frieden von 1466 kam es nach 13 Jahren Krieg zu weiteren großen Gebietsabtretungen an Litauen, Polen und Schweden. 1525 löste sich der Deutschordensstaat schließlich auf. Während weiter westlich in Süddeutschland und im heutigen Sachsen-Anhalt die Bauernkriege tobten, legte der letzte Hochmeister Albrecht sein Amt nieder und schwor dem polnischen König Sigismund den Lehenseid. Sigismund belehnte Albrecht und dessen Erben daraufhin mit dem verbliebenen Land. So entstand Preußen als erster protestantischer Staat der Welt. Aus dem Hochmeister wurde der Herzog Albrecht von Preußen.
Preußen war ein multiethnisch-multilingualer Staat. Schon seit 1410 und bis zu Albrechts Tod im Jahr 1568 waren von Süden her Menschen aus dem polnischsprachigen Herzogtum Masowien ins Land gekommen. Konrad von Masowien hatte einst den Orden um den gemeinsamen Kampf gegen die Prußen gebeten. Nun rief der Deutschordensstaat die Masowier als Siedler zur Urbarmachung der östlich und südlich der Linie Insterburg-Nordenburg-Sensburg-Ortelsburg-Neidenburg gelegenen »Wildnis« ins Land. Das ist wortwörtlich zu verstehen: Die letzten Bären und Wölfe wurden hier erst Anfang des 19. Jahrhunderts erlegt. Die Masowier geben der Landschaft ihren Namen: Masuren. Viele der neuen Ortsnamen waren auf die polnischen Szlachta, also Adelige, zurückzuführen, die hier belehnt wurden.
Dabei behielt die zugewanderte Bevölkerung auch ihre Muttersprache über die nächsten vier Jahrhunderte grundsätzlich bei. Die sprachgeschichtliche Besonderheit Masurens ergibt sich dadurch, dass sich hier bis 1525 die Reformation durchsetzte, während anderswo – nicht nur in Polen, sondern auch im angrenzenden Ermland – die katholische Gegenrevolution siegte. Die Insellage des protestantischen Ost- und Südostpreußens brachte bald einen eigenen polnischen Dialekt hervor. Denn insofern sich die Protestanten aus konfessionellen Gründen abkapselten, blieb das Masurische auf dem Stand des Polnischen des 15. Jahrhunderts stehen und vermischte sich fortan stark mit deutschen Sprachlauten und Wörtern.
Geschichte als Mythos
Der 1525 untergegangene Deutschordensstaat wurde mit dem Aufkommen des deutschen Nationalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts stark romantisiert und diente der historischen Rechtfertigung von Gebietsansprüchen. Für den Präfaschismus im 19. und den Faschismus im 20. Jahrhundert war er – im Zusammenspiel mit abenteuerlichen frühgeschichtlichen Verrenkungsübungen – Hauptreferenz bezüglich des Mythos der Ostkolonisation. In »Wir waren in Ostpreußen«, einem Jungenschaft-»Sommerfahrt«-Reisebericht, erschienen 1939 in der Nazibuchreihe »Bücher der Jungen«, schrieb der sächsische Jungvolkführer Kurt H. Hartmann unter dem Eindruck eines Besuchs der Marienburg: »Irgendeine geheime Kraft scheint in diesen Räumen zu walten, in denen vor Hunderten von Jahren Männer, einer großen Idee unterworfen, einem Willen gehorchend und nichts anderes kennend als das Gesetz ihres Ordens und die Ehre, das Deutschtum hinaustrugen in den feindlichen Ostraum und es heldenmütig verteidigten. Und diese Kraft scheint uns zu mahnen, scheint zu fordern und zu verpflichten. Seht, so sollt ihr sein, ihr, die Träger des Reichs!«
Die Nationalisten erfanden im Rückblick auf das 15. Jahrhundert den »Existenzkampf der Völker« und ein »immerwährendes Ringen der Deutschen und Polen«, wo historisch in Wahrheit, so der Historiker Christian Graf von Krockow, ein »Machtkampf (…) zwischen großen und kleinen Fürsten, Ständen oder Städtebünden (…) ausgefochten wurde«, die »eben nicht nationalen Zielen, sondern ihrem eigenen Interesse folgten«, denn »die doch ganz überwiegend deutschen Städte und Stände« versammelten sich beispielsweise in einem »Bündnis mit dem König von Polen«. Entsprechend kämpften bei der Tannenberg-Schlacht von 1410 Deutschsprachige auf der Seite des polnisch-litauischen Königs und Polnischsprachige auf der Seite der Deutschordensritter. Die »nachträglichen Mythen«, so von Krockow, »enthüllen« nun einmal »gerade nicht die Geschichte, die sie beschwören, sondern sie sprechen von denen, die sie schufen«.
Die Nationalisten aber brauchen den Mythos. Das Vielvölkergemisch Preußen – »Kleinamerika« nennt es der ostpreußische Schriftsteller Arno Surminski – war immer gefährdet und dazu ein Gebiet mit wechselnden Loyalitäten. Tatsächlich lebte schon Immanuel Kant mehrere Jahre als russischer Untertan, verdammte der slawophile Aufklärer Johann Gottfried Herder die Kolonialisierung des Prußenlandes, und um Nikolaus Kopernikus, der unser Weltbild revolutionierte, brennt ein ewiger Streit, ob er denn nun Pole oder Deutscher gewesen sei.
Angst vor den »Slawen«
Mit der Gründung des »Kaiserreichs« 1871 wurde Deutsch als exklusive Amts- und Schulsprache eingeführt. Das Polnische, Litauische und Russische sollte aus dem Alltag verdrängt werden. Was die Nationalisten aber in Sachen sprachpolitischer Homogenisierung erreichten, zerstörte der Kapitalismus, den Bismarck als ökonomische Voraussetzung der Großmachtpolitik erkannt hatte. Die ostpreußische Rückständigkeit und der krasse Landraub der Junker seit der als »Bauernbefreiung« bezeichneten Agrarkapitalisierung führten trotz Preußens sehr hoher Geburtenrate zu extremer Landflucht. Verstärkt durch die Agrardeflation im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts flohen die Arbeiter und Dienstmädchen vor Ausbeutung und Unterdrückung in die Industriestädte des Westens, wo man sie »Ruhrpolen« nannte, oder gleich nach Amerika. Die Herrschenden aber brauchten sie als Bollwerk des Kolonialismus, als Siedler und Rekruten. In den Schriften Max Webers herrscht daher die Angst vor der »Polonisierung«: Was nutzt es, wenn das Land den Deutschen gehört, aber das riesige Heer der Landarbeiter, Tagelöhner, Erntehelfer aus Slawen besteht? Auch die 1886 geschaffene und bis 1919 tätige »Ansiedlungskommission«, die die Ansiedlung von insgesamt 22.000 Familien sowie den Aufkauf von polnischen Höfen und deren Weitergabe an Deutsche vorsah, schuf nicht wirklich Abhilfe. Der Versailler Vertrag, der nach dem Ersten Weltkrieg mit dem »polnischen Korridor« die Provinz Ostpreußen zur Insellage verdammte, erhöhte die Sorgen noch.
Die Grenzlandideologie schuf sich bald einen neuen Mythos. Eine Schlacht im Ersten Weltkrieg, bei der Ende August 1914 die zaristischen Truppen auf ostpreußischem Boden geschlagen wurden, galt alsbald, obwohl sie bei Hohenstein nahe Neidenburg (Nidzica) stattfand, als »Schlacht von Tannenberg«. Der Sieg über die Russen diente als symbolische Umkehrung der Niederlage von 1410 und als Erinnerung an den »jahrhundertelangen Schicksalskampf« der deutschen »Zivilisation« gegen die östliche »Barbarei«. Zwischen 1924 und 1927 wurde das monströse »Tannenberg-Denkmal« errichtet. Es sollte zum Wallfahrtsort werden. Der »Tannenberg«-Mythos wurde zugleich zum Nachweis der angeblichen rassischen Überlegenheit.
In »Das Ostproblem« (1922) argumentiert der Literaturwissenschaftler Walther Harich, die Grenze der Zivilisation verlaufe zwischen Deutschen und Slawen. Das Slawische war in der dominanten deutschen Literatur stets Synonym für Untermenschentum. In dem 1870 erschienenen Bestsellerroman »Aus eigener Kraft« von Wilhelmine von Hillern versucht der aus Zürich zugezogene Gutsbesitzer Alfred, von seinem »freundlichen Herrenhaus«, in zivilisatorischer Mission das »arme verkommene Land« auf Vordermann zu bringen, denn selbst aus dem »Neger, diesem verachtetsten aller Parias«, sei »durch Erziehung« noch etwas »zu machen«. Aber in Masuren vermag »der bildende Einfluß Alfreds« es nicht, »die alten verheerenden Erbfehler der Masuren, Arbeitsscheu und Trunksucht, auszurotten«. Der abergläubische, halb polnisch sprechende, halb verhungerte und ganz besoffene Masur an sich sei nun einmal »träge, stumpf und geduldig wie der Stier« und dämmere dahin »im Zwielicht (seiner) dumpfigen Schaluppen« und »zwischen Leben und Sterben, zwischen Wachen und Schlafen«.
Eingedeutscht
Das Völkergemisch blieb beharrlich. An allen Ecken und Enden verrieten unübersehbare Spuren den multiethnischen Charakter des Landes. Es war berühmt für seine lautmalerischen Ortsnamen. Teilweise nach deutschen Verben klingend, sind sie doch Ausdruck der prußischen, masurischen, polnischen Vergangenheit. »So konnte man«, schrieb Hans Hellmut Kirst, »folgendes auf Ortstafeln und Bahnstationen erblicken: (…) Prassen, Faulen, Maulen. Sodann: Karkeln und Bumbeln. (…) Schließlich sogar: Gr. Aschlacken, Gr. Aschnaggern und Kackschen ebenso wie Willpischen«. Auch Ortschaften wie Powunden und Juckstein, Soffen und Kotzlauken, Klein Wixwen und Schultitten gab es. Und mit Vorliebe verschickte man Postkarten aus Gumbinnen, die von der »Pissa-Partie« grüßten, denn dieser kleine Fluss und sein Name waren, wie Michel Tournier in seinem Roman »Der Erlkönig« über französische Kriegsgefangene in Ostpreußen schrieb, »Gegenstand unerschöpflicher Späße«.
Schon Mitte der 1920er Jahre aber wurden reihenweise »fremdvölkische« Ortsnamen eingedeutscht. Während des Faschismus folgte die Umbennung der verbliebenen Orte. Aus der Pissa, die Friedrich Wilhelm IV. der Legende nach ausschließlich in »Urinoko« umzubenennen erlaubt hätte, wurde kurzerhand die Rominte. Aus Marczinawolla Martinshagen, aus Sypittken Vierbrücken, aus Wawrochen Deutschheide und aus Sawadden Grenzwacht. Das 160-Seelen-Dorf Sutzken im Kreis Goldap bemühte sich im März 1933 sogar, die neue Zeit im Namen zu tragen – erfolgreich. Als einzige Ortschaft im »Dritten Reich« erhielt sie die Erlaubnis, sich in »Hitlershöhe« umzubenennen. In kürzester Zeit verschwanden so an die 1.500 historischen Ortsnamen von der Landkarte. Mancherorts setzte sich die Ironie der Geschichte durch: Darkehmen erhielt den Namen des lokalen Flusses Angerapp, weil die Nazis im Wort »Anger« die deutsche mittelalterliche Dorfstruktur wiederzuerkennen glaubten. Tatsächlich leitet es sich aber vom Litauisch-Prußischen Wort für »Aal« ab.
Nachhaltig war die »Taufkrankheit« (Siegfried Lenz) ohnehin nicht: Wehrmacht und Luftwaffe verbreiteten ihren Schrecken in ganz Europa unter dem schwarzen Kreuz des Deutschordensstaats. Und der Krieg kam als Bumerang zurück. Eine Folge von Niederlage und sowjetischer Befreiung waren Orte im nördlichen Ostpreußen – heute die russische Oblast Kaliningrad –, die bis heute Namen tragen, die sich übersetzen als »Rote Armee«, »Rote Fahne«, »Erster Mai«, »Eisenbahnstadt«, oder die auf jene Armeeführer lauten, die hier gegen den Faschismus kämpften wie Gussew, das frühere Gumbinnen. Auch aus Hitlershöhe, dem früheren Sutzken, wurde wieder ein Suczki. Gleich zwei Ortschaften wurden nach dem von den Nazis ermordeten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann benannt. Aus Didlacken im Kreis Insterburg und Richau im Kreis Wehlau wurde die Siedlung Telmanowo. Die Kreisstadt Angerburg erhielt unter polnischer Verwaltung sogar ihren litauischen Aal zurück, denn heute heißt sie »Wegorzewo« – und »Wegorz« ist das polnische Wort für »Aal«.
Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt am 22. Mai 2025 über den Gothaer Vereinigungsparteitag von Allgemeinem Deutschen Arbeiterverein und Sozialdemokratischer Arbeiterpartei: »Gespaltene Einheit«
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (6. Juli 2025 um 09:48 Uhr)Herzlichen Dank an Ingar Solty für diesen Rückblick in eine heute weitgehend verschwiegene Zeit der Expansion dessen, woraus sich einstmals das Deutsche Reich entwickeln würde. Wem in der Bundesrepublik Deutschland ist wohl bewusst, wie brutal, mit Feuer, Schwert, Blut und Tränen vor Jahrhunderten das entstand, worauf wir heute so unendlich stolz sein sollen. Ich erinnere mich, dass die verheerenden Ostexpansionen des Deutschrittertums in unserem Geschichtsunterricht eine gewichtige Rolle gespielt haben. Allerdings war das eben in den 60er Jahren in der DDR. Die Frage, die damals dahinter stand, war die, ob es Geschehnisse in der Entwicklung eines Nationalstaates gibt, auf die man nicht mit Verehrung, sondern mit Abscheu zurückblicken muss. Es hat sich als sehr förderlich erwiesen, wenn man aus der Kenntnis der Scheusale vergangener Zeiten heranreifende Scheusale auch in der Jetztzeit rechtzeitig erkennen kann. Vor allem dann, wenn sie in Form von Kriegstüchtigkeitsappellen schon wieder vor der Tür stehen.
- Antworten
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Reinhard L. aus Frankfurt/Main (5. Juli 2025 um 07:47 Uhr)Ein verdienstvoller Beitrag, aber mit einem sachlichen Fehler: die »Ansiedlungskommission« war nicht in Ostpreußen tätig, sondern in den überwiegend polnisch besiedelten Gebieten, die sich Preußen im Zuge der zweiten Teilung Polens 1793 angeeignet hatte: also in den Provinzen Posen und Westpreußen. Im übrigen enthält das Litauische eine Unzahl von slawischstämmigen Lehnwörtern, so dass es großer letztlich müßiger philologischer Anstrengungen bedürfte zu bestimmen, ob jetzt der polnische »Wegorz« – russisch: »ugor'« – ursprünglich litauisch oder slawisch gewesen sei.
- Antworten
Ähnliche:
- Andy Bünning/imago03.07.2025
Vor Rechten eingeknickt
- Yuliia Ovsiannikova/NurPhoto/imago03.06.2025
»Eine weitere Brutalisierung des Krieges«
- ullstein bild15.07.2013
Es gibt keinen Tod