Gegründet 1947 Montag, 7. Juli 2025, Nr. 154
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 07.07.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Jenseits von Eden

Die Gewalt des Turbokapitalismus in J. G. Ballards satirischem Roman »Super-Cannes«
Von Enno Stahl
10.JPG
J. G. Ballard 2001 in seiner Wohnung in Shepperton, Grafschaft Surrey

Im Jahr 2000 erschien der Roman »Super-Cannes« des 2009 verstorbenen britischen Autors James Graham Ballard. Nun legt der Züricher Verlag Diaphanes das Buch in deutscher Erstausgabe als neunten Band seiner seit 2017 erscheinenden Ballard-Reihe vor. Handlungsort ist ein Businesspark in den Hügeln über Cannes, daher der Titel »Super-Cannes«. Tatsächlich gibt es dafür ein reales Vorbild: Schon seit 1968 existiert eine solche Gated Community bei Antibes an der Côte d’Azur, die Enklave Sophia Antipolis, wo sich 2.230 Unternehmen mit 42.000 Mitarbeitern angesiedelt haben.

Mit Ballards fiktivem Hightechpark Eden-Olympia verhält es sich ganz ähnlich, allerdings mit deutlich düsteren Abgründen. Dorthin ziehen Paul Sinclair und seine Frau Jane. Die Sache hat allerdings einen seltsamen Beigeschmack, denn Jane Sinclair ist als Nachfolgerin des Arztes David Greenwood engagiert worden, eines Bekannten des Paars, der dort wenige Monate zuvor Amok lief. Aus heiterem Himmel hatte er zehn Menschen erschossen, darunter einige der mächtigsten Führungspersonen von Eden-Olympia, bevor er selbst getötet wurde. Den Sinclairs bleibt unbegreiflich, wie der sensible Idealist, der nebenher als Armenarzt tätig war, zu so einer Tat fähig sein konnte. Nicht nur übernimmt Jane nun Greenwoods ehemaligen Posten in Eden-Olympia, die Sinclairs werden sogar in dessen Wohnsitz einquartiert.

Paul, der die Folgen eines Flugunfalls auskuriert (er ist Verleger zweier Luftfahrtmagazine in London), findet einige Ungereimtheiten in der Geschichte von Greenwoods Verzweiflungstat. Er macht sich auf die Suche nach der Wahrheit und wird immer besessener von dem Fall. Währenddessen wird Jane zunehmend von ihrer Arbeit vereinnahmt, aber auch von einigen Bewohnern Eden-Olympias, die ihren eigenen übermäßigen Arbeitseinsatz mit ziemlich merkwürdigen Intrigen und Spielen kompensieren.

In den ersten Monaten ist dennoch alles einigermaßen im Lot. Jane und Paul sehen sich zwar nicht oft, aber pflegen munter-coole Dialoge, die auf eine halbwegs gute Stimmung schließen lassen: »Jane nahm mir das Croissant aus der Hand und tunkte es in meinen Kaffee. ›Wer bist du – Nanuk, der Eskimo? Ich bin keine Eskimosquaw, die sich mit Walöl einschmiert und jedem dahergelaufenen Inuit zum Beischlaf angeboten wird.‹ – ›Ich liebe Walöl …‹ Ich hob abwehrend die Hände, als Jane mir Schläge androhte. ›Dr. Sinclair, ich werde mich bei Professor Kalman beschweren. Körperlicher Übergriff auf einen Patienten.‹ – ›Lass nur. Der meint ohnehin, du bräuchtest eine Lobotomie.‹«

Nach und nach verfinstert sich das Bild: Jane begegnet dem Arbeitsstress mit täglichen Morphiumspritzen. Paul vergnügt sich mit Greenwoods Ex­geliebter Frances. Gleichzeitig kommen immer mehr dunkle Machenschaften hinter der blitzblanken Fassade Eden-Olympias zum Vorschein.

Das Ganze geriert sich ein wenig als Krimi, der im Grunde keiner ist, ähnlich etwa Raymond Chandlers »Der lange Abschied«). Denn mehr als um die Aufklärung der Hintergründe geht es um eine Satire auf den neoliberalen Leistungswahn. Die Schizophrenie und die Paranoia, die aus übersteigertem Optimierungsdenken, menschlich wie wirtschaftlich, resultieren, werden schonungslos überzeichnet. Die latente Gewalttätigkeit des Turbokapitalismus wird hier zu realer Gewalt, zu Körperverletzung, Totschlag und Mord, gepaart mit sadosexistischen Exzessen.

Ballards Schreiben ist einerseits recht traditionell storyorientiert, mit einem Ich-Erzähler als Hauptfigur, linear durcherzählt. Doch seine Sprache ist ambitioniert, stilistisch weit über dem Niveau von Unterhaltungsromanen, präzise in den Beschreibungen von Orten, Landschaften und Personen. Noch die unwichtigste Nebenfigur wird treffend und plastisch beschrieben, selbst in beiläufigsten Lebensäußerungen. Das ist sehr gut, aber mitunter wird es ein bisschen viel. Ballard übt sich geradezu in Vergleichsorgien: »Auf der anderen Seite der Bucht von La Napoule verhüllte Abendnebel die Croisette, so dass es aussah, als schwebten die schwarzen Brüste der schönen Otéro über dem Carlton Hotel wie eine auf einem duftigen Seidenkissen feilgebotene Gabe eines Paschas. Das Meer war so ruhig und glatt wie ein riesengroßes, marmoriertes Vorsatzblatt. Doch knapp dreihundert Meter unter mir, wo die Wellen in die Bucht gelenkt wurden, die Port-la-Galère von der Landzunge Miramar trennte, tobten sie als schäumende Gischt durch die dunkle Luft wie ungestüme Akrobaten.«

Die Wahrheit über David Greenwood kommt an den Tag, wirkt aber etwas unglaubwürdig. Das Ganze scheint etwas in die Länge gezogen, manche Äußerungen, Feststellungen oder Vorhaben der Personen wiederholen sich. Es ist irgendwie ziemlich gut, in anderer Hinsicht aber auch nicht. Am Ende kacken ohnehin alle restlos ab. Paul spritzt sich permanent Schmerzmittel, weil seine Verletzung nicht heilen will, er hat seine Beteiligung am Verlag aufgegeben. Jane hängt komplett an der Nadel. Alles in toxischer Abhängigkeit von Eden-Olympia.

J. G. Ballard: Super-Cannes. Aus dem Englischen von Helma Schleif. Diaphanes-Verlag, Zürich 2025, 480 Seiten, 25 Euro

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Mehr aus: Feuilleton