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Aus: Ausgabe vom 01.07.2025, Seite 7 / Ausland
Serbien

Grünes Licht für Ungehorsam

Serbien: Großdemonstrationen und Blockade für Neuwahlen. Regierung will Protest aussitzen
Von Oliver Jansen
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Nichtstun verboten: Nach der Großdemonstration in Belgrad bleiben die Straßenblockaden erst einmal stehen (29.6.2025)

Am 1. November 2024 stürzte das Vordach eines frisch renovierten Bahnhofsgebäudes in Novi Sad ein und tötete 16 Menschen. Seither kommt es in ganz Serbien regelmäßig zu Kundgebungen, Blockaden und anderen Protesten. Auch vergangenen Sonnabend erlebte die Hauptstadt Belgrad eine Großdemonstration. Es war zugleich der St. Veitstag, der für das Balkanland historisch große Bedeutung hat. An ihm ging zum Beispiel 1389 die Schlacht auf dem Amselfeld verloren, 1914 wurde an ihm im bosnischen Sarajevo auch der k. u. k. Thronfolger Franz Ferdinand von einem serbischen Nationalisten getötet.

Wie Bilder aus der Luft belegen, kamen auf dem Slavija-Platz und den umliegenden Straßen am Sonnabend etwa 140.000 Menschen zusammen, um gemeinsam 16 Minuten im Gedenken an die 16 Toten von Novi Sad innezuhalten und der Regierung die Meinung zu sagen. Die Organisatoren hatten im Stile eines Ultimatums angekündigt, grünes Licht für zivilen Ungehorsam zu geben, wenn bis zum Abend keine Neuwahlen angekündigt würden. Man rief dazu auf, Schutzbrillen, Masken und Verpflegung mitzubringen.

Der von Studierenden initiierten Bewegung ist es gelungen, breite Teile der Bevölkerung zu mobilisieren. Die seit Ende vergangenen Jahres andauernde Besetzung nahezu aller Universitäten sowie die wiederholten Großdemonstrationen und die täglichen symbolischen Blockaden belegen die tiefe Verankerung des Protests. Spätestens seit der Demonstration am 15. März in Belgrad stellt sich jedoch die Frage, wie er weitergeführt werden soll – insbesondere, da Staatspräsident Aleksandar Vučić und seine Serbische Fortschrittspartei (SNS) sich unbeeindruckt zeigen und anscheinend die Situation auszusitzen versuchen.

Während der studentische Teil der Bewegung bislang großen Wert auf Gewaltfreiheit legt, mehren sich Stimmen, die eine stärkere Konfrontation mit den Profiteuren des Systems fordern. Um eine gemeinsame Linie zu entwickeln, organisierten die Studierenden in vielen Gemeinden öffentliche Versammlungen – sogenannte Zborovi. Obwohl in Serbien die Meinung weit verbreitete ist, dass faire Abstimmungen nicht möglich sind, wurden Neuwahlen zur zentralen politischen Forderung.

Auch die Regierung mobilisierte für Sonnabend – und ließ Tausende Anhänger mit Bussen nach Belgrad bringen. Die Anspannung insbesondere rund um das Ende der Demonstration war entsprechend groß. Entgegen den Erwartungen blieb der Abend jedoch relativ ruhig. Es kam lediglich zu vereinzelten Auseinandersetzungen mit der Polizei, bei denen laut offiziellen Angaben sechs Beamte verletzt und zahlreiche Personen festgenommen wurden. Unter den Regierungsgegnern machte sich zunehmend Enttäuschung breit – ein konkreter Plan für die Zeit nach Ablauf des Ultimatums schien zu fehlen.

Am Sonntag mittag versammelten sich jedoch Menschen vor den Polizeistationen, um die Freilassung der Verhafteten zu fordern. Im Belgrader Stadtteil Zemun kam es parallel dazu zu ersten Straßenblockaden, die offenbar spontan organisiert wurden. Binnen Stunden entstanden auch in anderen Stadtteilen Belgrads sowie in Städten wie Novi Sad Blockaden von Hauptverkehrsknotenpunkten.

Es scheint, als werde der im Frühjahr gescheiterte Versuch eines Generalstreiks nun nachgeholt. Die Blockaden sollen so lange bestehen bleiben, bis die Regierung Neuwahlen ansetzt. Darüber hinaus wird die Freilassung aller festgenommenen Demonstranten sowie die Räumung des sogenannten Ćacilands gefordert – eines von der Regierung organisierten »Protestcamps« im Pionirski-Park, von dem aus immer wieder Übergriffe auf Regierungsgegner ausgingen.

Aktuell halten die Blockaden an – vielerorts wurden auf den Straßen Zelte und Pavillons aufgestellt. Die Polizei reagiert an einzelnen Punkten, scheint aber nicht willens oder in der Lage zu sein, die Straßen vollständig zu räumen. Wie die Regierung reagiert und ob Vučić weiter auf Zeit spielt, bleibt ungewiss. Es wäre jedoch möglich, dass er auf die Forderung nach Neuwahlen eingeht. Dies hatte er 2023 getan, um der damaligen Protestbewegung »Serbien gegen Gewalt« den Wind aus den Segeln zu nehmen.

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