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Aus: Ausgabe vom 30.06.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Gebet in Ruinen

Vernunft und Sinnlichkeit: Ralf Rothmanns Erzählungsband »Museum der Einsamkeit« ist von gestern und zeigt ihn gerade darum auf der Höhe
Von Stefan Gärtner
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Ohne Ironie aber mit Handy: Der erstaunliche Herr Rothmann

Nicht nur Bücher, auch Lektüren haben ihre Schicksale, und der Zufall kann es fügen, dass, bevor ein neuer Erzählungsband von Ralf Rothmann in der Post ist, uns der frische Roman von Nell Zink erreicht. Zink ist eine US-Amerikanerin, die seit 25 Jahren in Deutschland lebt, heute im Umland von Berlin zu Hause ist und Romane verfasst, die, weiß der Klappentext von »Sister Europe« (Rowohlt), »komplett frei von literarischer Konvention« sind. Papier ist ja bekanntlich geduldig, und im Gegenteil darf man Zinks Illustriertenparlando über relevante Zeitungsthemen wie Identität und urbanes Alleinsein für nichts anderes als jene Konvention halten, die unsere großen Verlage finanziert. Sprachlich ist das nämlich sterbenslangweilig, Vorgang, Bericht, er sagt/sie sagt, also genau die forsche stilistische Anspruchslosigkeit, die alle mitnimmt, zumal die, die von Büchern erwarten, dass sie in Berlin spielen und Transmenschen nicht diskriminieren.

Kommen wir zum Gegenteil. Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig und aufgewachsen im Ruhrgebiet, lebt seit 50 Jahren in Berlin, hat davon aber nie allzuviel Aufhebens gemacht. Nach seiner durchaus reaktionären Weltkriegstrilogie – »Im Frühling sterben« (2015), »Der Gott jenes Sommers« (2018) und »Die Nacht unterm Schnee« (2022) –, die die deutschen tausend Jahre als allzumenschliches Verhängnis malte und vom Feuilleton folgerichtig in den nationalen Himmel gelobt wurde, hätten Altfans aufgeben dürfen, hätte, wie auch im schwereren Fall Tellkamp, der dumme Inhalt nicht gegens formale Können gestanden; und gegens »Museum der Einsamkeit« ist dann inhaltlich wieder nichts einzuwenden, zumal in der Schlusserzählung ein KZ-Kommandant zwar ganz unschuldig ist, aber gerade darum natürlich kein bisschen.

Dass Rothmann Maurer gelernt hat, während Zink in Medienwissenschaft promoviert ist, setzt sich als Hinweis zwar dem Kitschverdacht aus, bietet aber einen Zugang zur völlig unterschiedlichen Auffassung und Machart von Literatur, auch wenn uns der angelsächsische Unterhaltungsprimat viel näher ist als deutscher Handwerkerstolz. Rothmann, so fängt es an, ist kein Ironiker, was man in heutigen Zeiten kaum glauben mag, ihn aber vor jenem flott-souveränen Gestus bewahrt, der dann doch zu oft das Gegenteil von Artifizialität ist. »Museum der Einsamkeit«, du liebe Güte, das kann der doch nicht ernst meinen – aber was sonst wäre Literatur? Der Unterschied ist, wenn wir das im Thomas-Mann-Jahr einmal ganz unpolitisch betrachten dürfen: Zink macht Text, Rothmann Kunst, und zwar mit allem romantischen Anspruch. Was dabei herauskommt, ist nicht Avantgarde, sondern Konvention als Unverächtliches, als jene zweite Unmittelbarkeit, hinter der Adorno Humanität vermutete. Also hält sich Rothmann an die Regeln klassischen, sozusagen gepflegten Erzählens und bleibt dezent auch in der Auswahl seiner Themen, die erstens sowieso seine sind, wenn es um Lehrlingsbaustellen oder Kindheit in den westdeutschen Arbeitersiedlungen der Nachkriegszeit geht, und zweitens einen Rundgang durch jenes Museum der Einsamkeit erlauben, das wir selbst sind. Um im Bild zu bleiben: Wenn hier was schwul ist, dann nicht als Großgemälde an der Stirnwand und nicht so, dass es dem Klappentext eine Information wert sein muss.

Von Peter Bichsel stammt die Maxime, Wahrheit sei immer erzählen, nie berichten, und das Bestrickende an Rothmanns Band ist, dass und wie er Schillers Pathetisch-Erhabenes in die Literatur zurückführt. Seit der romantischen Ironie war das Pathos da ja eher auf dem Rückzug, und derselbe Thomas Mann, der mit seiner frühen Emphase in Sachen »Kultur« und »Geist« das spezifisch Pathetische deutscher Nation verteidigte, schrieb gleichwohl längst ironisch. Der postmoderne »Tod des Autors« war dann eine weitere Vernüchterung, denn wo sich Text selbst organisiert, ist Pathos unausweichlich Ironie. Natürlich organisiert sich auch Rothmanns Text auf eine Weise selbst, denn ein Wort gibt stets das nächste, und natürlich zehrt auch er vom kühlen Ton der Short story; doch Rothmann steht nie drüber. Es ist ein alter Satz, dass jeder nur von sich erzählt, aber hier wird aus Sprache Leben und nicht aus Leben eine Sprache, die dann genauso wenig lebt. Man kann mit Benjamin eben mit der Sprache oder in der Sprache erzählen, und in diesen Geschichten, die von nicht weniger als Jugend, Angst, Liebe, Tod handeln, ist das Wort, als kunstvoll unprätentiöses, noch (oder wieder) am Anfang, selbst da, wo es, was dann doch einmal Diskurs ist, von misogynen Jungmännern namens Esad und Muharrem erzählt, die wir dem Autor nicht ankreiden, weil es nicht um Integrationsprobleme geht, sondern darum, dass Liebe eben doch Grenzen kennt; und da spielen zwei schlimme balkanische Ferrari-Brüder eine unter Klischeegesichtspunkten vielleicht heikle, aber eben plausible Rolle, wenn ein Klischee über das andere triumphieren soll. Was dann doch wieder ein bisschen ironisch ist, und um so mehr, als die Pointe die Frage öffnet, welches denn nun eigentlich triumphiert hat.

Ganz passend verhandelt die Erzählung schon auf der ersten Ebene Schillers Einschätzung, beim Erhabenen stimmten »Vernunft und Sinnlichkeit nicht zusammen, und eben in diesem Widerspruch zwischen beiden liegt der Zauber, womit es unser Gemüth ergreift«. Diesen Zauber kann der alte Romantiker Rothmann, der so zeitlos schreibt, dass man regelrecht erschrickt, wenn jemand zum Handy greift, mühelos evozieren, und wer, zwischen all der zeitgenössischen ­Prosa, die zu genau weiß, was in der Zeitung steht, zwischendurch mutlos geworden wäre, könnte hier einen Grund finden, wieder an das zu glauben, woran auch Rothmann glaubt, dessen Poetologie vermutlich in den Titel eines seiner alten Gedichtbände passt: Gebet in Ruinen. Denn diese Liebe, da werden alle Gläubigen zustimmen, ist wesensmäßig grenzenlos, und das ist zwar schon alles, aber halt auch sehr viel.

Ralf Rothmann: Museum der Einsamkeit. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025, 268 Seiten, 25 Euro

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