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Aus: Ausgabe vom 30.06.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Solidarität mit Gaza

Gegen die Komplizenschaft beim Völkermord

Tausende Aktivisten aus aller Welt versammelten sich Mitte Juni zum »Global March to Gaza« in Ägypten. Ihre Solidaritätsaktion wurde von ägyptischen Behörden zerschlagen
Von Carmen Eckhardt, Kairo
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Protestaktion von meist aus Tunesien stammenden Teilnehmern des Gazamarsches vor der Journalistengewerkschaft in Kairo (12.6.2025)

An einem Checkpoint in der Steinwüste nahe der Stadt Ismailia ist die Straße gesperrt. Etwa 1.000 Personen werden von Polizei und Militär gezwungen, aus den Autos zu steigen. Ihre Pässe werden beschlagnahmt. Nach Stunden in der prallen Sonne wird die Menge eingekesselt. Unfreiwillig treffen alle internationalen Delegationen des »Global March to Gaza« (GMTG) hier zusammen. Spontan beschließen die Aktivisten eine Sitzblockade, sie sollte bis in die Abendstunden andauern. »Ich saß mit Leuten aus aller Welt auf einem Wiesenstück. Wir haben uns untergehakt und palästinasolidarische Parolen skandiert«, erzählt die Aktivistin Maral. »Als die Nacht kam, drehte das Militär die Beleuchtung ab, es wurde totenstill. Dann kamen als Beduinen verkleidete Männer und mischten sich unter uns: Sie schlugen mit Peitschen und Fäusten auf uns ein, warfen mit Flaschen nach uns, zerrten uns auseinander.« Unter Tränen bittet der Aktivist Dylan aus Wales die Polizei, den Tross Richtung Rafah weiterreisen zu lassen. »Als ich Sanitäter in Gaza war, sind Schwangere vor meinen Augen erschossen worden, Säuglinge verhungerten in den Armen ihrer Mütter, weil sie keine Milch geben konnten. Im Namen von Allah, lassen Sie uns ziehen.« Er sollte nicht erhört werden.

Inmitten des anhaltenden Genozids in Gaza hatten Gewerkschaften, Solidaritätsgruppen und Menschenrechtsorganisationen den GMTG initiiert. Delegationen aus mehr als 50 Ländern, darunter Mexiko, die Türkei, Südafrika, Brasilien, Kanada, Deutschland, Tunesien und Frankreich, wollten am 13. Juni in Kairo aufbrechen, 320 Kilometer bis Al-Arish am Mittelmeer zurücklegen und schließlich etwa 50 Kilometer von dort bis zum Grenzübergang nach Rafah im Gazastreifen marschieren. Geplante Ankunft: 15. Juni. Der Protestmarsch sollte die zivile Antwort auf globale Ungerechtigkeit darstellen und auf den Genozid in Gaza aufmerksam machen. Die Organisatoren forderten, einen humanitären Korridor für Lebensmittel, Wasser und Medikamente zu eröffnen. Die beantragte Genehmigung zum Durchqueren des Sinai wurde von den ägyptischen Behörden im Vorfeld weder erteilt noch abgelehnt.

Verfolgt von Anfang an

Bereits bei der Einreisekontrolle nach Ankunft am Flughafen in Kairo werden einige Aktivisten direkt festgesetzt, verhört und wieder abgeschoben. Sofort ist die Repression der ägyptischen Regierung spürbar. Maral, Teilnehmerin der deutschen Delegation, passiert zwar die Passkontrolle, strandet dann aber in der sengenden Hitze vor dem Flughafengebäude. Per Messenger wird bereits gewarnt: Zivilpolizisten durchkämmen die vorab gebuchten Hotels, kassieren Pässe ein und lesen Handys aus. »Ins gebuchte Hotel konnte ich nicht, dort fanden schon Razzien statt«, erzählt sie später. »Gemeinsam mit anderen Frauen fanden wir eine Absteige im Zentrum: Ein Mann in Zivil tauchte auf, der sich nicht ausweisen, dafür aber unsere Handys auslesen wollte. Meine Mitstreiterin und ich gaben die ausgeschalteten Handys nicht heraus und stellten uns dumm. Als wir uns nicht vom Fleck bewegten, zog der Polizist ab. Am nächsten Morgen tauchten wir dann in einem privat gemieteten Apartment in einem Vorort von Kairo unter und starteten von dort aus. Während die Organisatoren ein Treffen auf einem Campingplatz in Ismailia ankündigen, gehen die Razzien weiter. Die Stadt liegt am Suezkanal und bringt die Aktivisten dem eigentlichen Ziel näher. Etwa 2.000 von den 4.000 Aktivisten gelingt es per Taxi und Uber aufzubrechen – darunter auch Maral. Die Hälfte von ihnen wird schon auf dem Weg abgefangen.

In den Tagen vor dem geplanten Aufbruch des Marsches hatten die Behörden eine Propagandawelle losgetreten, um die Organisatoren als ausländische Instrumente der Muslimbruderschaft zu diskreditieren; einer politischen Gruppierung, die in Ägypten als terroristisch eingestuft und als historische Widersacherin des Militärs gilt. Diese Rhetorik befeuerte die Polizei. Nachdem die Versammlung gewaltsam aufgelöst ist, werden Maral und alle anderen in Busse getrieben und zurück nach Kairo gezwungen. Jedem ist klar, unter der Überwachung der ägyptischen Polizei wird jegliches Zusammentreffen unmöglich gemacht – selbst in privaten Räumen. Maral hatte Glück und wurde nicht abgeschoben. «Ich konnte nach der Ankunft des Gefangenentransporters in Kairo abhauen und mich in einem Gebüsch verstecken», erzählt sie. «Eine Mitstreiterin hat mich aufgespürt und in einem Apartment untergebracht.»

Die Maßnahmen hätten der Gewährleistung der Sicherheit von Delegationen gedient, da die Lage in dem Grenzgebiet seit dem Ausbruch der Krise im Gazastreifen heikel sei, erklärte das ägyptische Außenministerium in einer Stellungnahme. Beobachter argumentieren jedoch, die harte Unterdrückung palästinasolidarischer Aktionen zeige deutlich, wie eng Ägypten mit Israel und den USA zusammenarbeitet, um eine breite Unterstützung für Palästinenser zu unterdrücken. «Ägypten ist ein Klientelstaat der USA und damit auch Israels», erklärte Eman Abdelhadi, Soziologin an der Universität von Chicago, im Gespräch mit junge Welt. «Es handelt entsprechend.»

Alldieweil nehmen die Razzien in Kairo weiter an Fahrt auf. Während Botschaftsangehörige vieler europäischer Vertretungen am Flughafen Kairo im Dauereinsatz sind, um ihren Bürgern bei den Massenabschiebungen beizustehen, macht sich die deutsche Vertretung rar. Ihren Landsleuten wird über die Botschaftshotline geraten, sofort auszureisen.

Das harte ägyptische Vorgehen gegen den GMTG erfolgte, nachdem der israelische Verteidigungsminister Israel Katz gewarnt hatte, israelische Streitkräfte würden die Konvois selbst stoppen, sollten die ägyptischen Behörden sie nicht abfangen. Ägypten unter Präsident Abdel Fattah Al-Sisi hat seine Sicherheitskooperation mit Israel auf der Sinaihalbinsel im Kampf gegen den Terrorismus erheblich ausgeweitet und ist einer der wichtigsten Abnehmer von israelischem Erdgas. Die Blockade des Gazastreifens ist ein wichtiger Bestandteil dieser Zusammenarbeit: Ägypten hat bei der Kontrolle der Hilfslieferungen an die Palästinenser über den von ihm kontrollierten Teil des Grenzübergangs Rafah eine so wichtige Rolle gespielt, dass Human Rights Watch das Land beschuldigt, die israelische Blockade zu unterstützen. Ägypten treibt kaltes Kalkül an. Für die verschuldete Militärdiktatur, die an strenge Sparmaßnahmen des Internationalen Währungsfonds gebunden ist, ist die jährliche Militärhilfe der USA in Höhe von 1,3 Milliarden US-Dollar entscheidend. Das ägyptische Militär braucht US-amerikanische Waffen, um sein Regime zu stützen. Die Behörden ersticken Proteste, bevor sie sich entzünden. Die Repression zielt auf jede Form der öffentlichen Sympathie mit den Palästinensern ab, die nicht vom Staat gebilligt wird.

Der Repression zum Trotz

Doch für den ägyptischen Repressionsapparat laufen nicht alle Abschiebungen so reibungslos, wie erhofft. Jean Philippe von der französischen Delegation erzählt: «Zehn kräftige Männer in Zivil stürmten die Dachterrasse unseres Hotels. Sie forderten uns auf, ihnen ›zu unserer Sicherheit‹ zu folgen. Wir weigerten uns.» Als sie daraufhin gewaltsam sieben Stockwerke hinunter aus dem Gebäude geschleift wurden, hätten sie es mit der Angst zu tun bekommen. «Auf der Straße schreien wir: ›Wir sind Franzosen! Wir kennen diese Männer nicht! Bitte rufen Sie die französische Botschaft an!‹ Sie versuchten, uns zum Schweigen zu bringen und zwangen uns in einen Gefangenentransportbus.» Am Flughafen wurde die Gruppe zu einem Flugzeug eskortiert. «Wir fragten, wohin es geht, sie sagten: ›Nach Rom.‹ – Wir wollten aber nicht nach Rom.» Die Gruppe habe zunächst verweigert, aus dem Bus auszusteigen. «Als sie versuchten, uns zu zwingen, legten wir uns auf das Rollfeld.» Immer mehr Menschen versammelten sich um die Aktivisten. «Wir baten sie, die französische Botschaft anzurufen. Dann haben sie uns nacheinander ins Flugzeug getragen, wo wir uns weigerten, Platz zu nehmen. Einige angesprochene Passagiere filmten die Szene, erzählt Jean Phi­lippe: »Nach Verhandlungen – die Piloten waren auch dabei – ließen sie uns schließlich nach Paris fliegen.«

Der Repression zum Trotz werden Bilder von Aktivisten, die während der Proteste aus Hotels entfernt, festgenommen oder zu Flügen gezwungen wurden, in alle Welt verbreitet. Diese Dokumentationen machen das Vorgehen Kairos öffentlich und tragen dazu bei, Ägyptens Mitschuld an der anhaltenden Belagerung und dem Völkermord in Gaza aufzuzeigen. Maral resümiert: »Auch wenn der Marsch sein eigentliches Ziel nicht erreichen konnte, haben sich 4.000 Menschen aus 50 Nationen selbst ermächtigt und eine kraftvolle, gemeinsame Initiative auf den Weg gebracht.« Es sei internationale Solidarität »gegen die internationale Komplizenschaft im Völkermord in Gaza« entstanden, freut sich die Aktivistin. Die Protestaktionen würden fortgesetzt, während Organisationen aus Malaysia eine »Tausend-Schiffe-Flottille« planen, um die israelische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen.

Hintergrund: »Global March to Gaza«

Eine Koalition malaysischer zivilgesellschaftlicher Organisationen hat eine ehrgeizige Kampagne angekündigt, um die andauernde israelische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. Die als »Tausend-Schiffe-Flottille« bezeichnete Kampagne ist die größte maritime Mobilisierung ihrer Art. Sie zielt darauf ab, Schiffe aus mehreren Kontinenten in einer koordinierten Aktion zu entsenden, um humanitäre Hilfe zu leisten und Israel zur Beendigung der Belagerung zu bewegen.

Schon wird weltweit aufgerufen, sich für den anspruchsvollen Törn zu melden. Gesucht werden Menschen mit maritimer Erfahrung, wie Bootsführer und Seeleute, Ärzte, Sanitäter, Journalisten, Personen mit Organisationserfahrung und zahlreiche mutige Aktivisten.

Die Organisatoren vom Malaysischen Konsultativrat islamischer Organisationen (MAPIM) sagen, dass die Flottille größer und besser organisiert sein wird als die »Freiheitsflottille« 2010, deren Reise mit der Tötung von zehn Aktivisten durch israelische Streitkräfte an Bord der »Mavi Marmara« endete.

Auf einer Pressekonferenz in Kuala Lumpur am Sonnabend sagte MAPIM-Präsident Azmi Abdul Hamid, die Kampagne sei eine direkte Antwort auf Israels völkermörderischen Krieg gegen Gaza. »Wir können nicht schweigen, während ganze Familien ausgelöscht werden und der Hunger als Waffe eingesetzt wird«, sagte er und fügte hinzu, dass »die Weltgemeinschaft handeln muss, wenn internationale Institutionen versagen«. (ce)

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