Sieg der Kirche
Von Hansgeorg Hermann
Es vergeht in Frankreich kaum ein Tag, an dem sich nicht irgendein politischer Führungskader mit patriotischem Pathos an die Brust klopft und sich inbrünstig zum »Gesetz von 1905« bekennt. Es geht um die »Laizität« der Republik: Die am 3. Juli des genannten Jahres festgeschriebene endgültige und – zumindest den Buchstaben nach – nicht aufkündbare Trennung von Staat und Kirche. Vor 120 Jahren mit der satten Mehrheit von 341 gegen 233 Stimmen im Parlament beschlossen, gilt sie bis heute und nicht nur in Frankreich als eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Errungenschaften der Moderne. Sie war eine – wenn auch sehr verspätete – Folge der Revolution von 1789: Schon am 26. August des Revolutionsjahres hatte die Nationalversammlung in Paris, den Idealen der Aufklärung folgend, in ihrer Charta das Fundament jeglicher Gesellschaft neu definiert: Nicht mehr im »Dienst Gottes« sei sie zu gründen, sondern auf den Menschen- und Bürgerrechten.
Erfolglose Gegenwehr
Die Kirche in die Schranken zu weisen erwies sich als politische Sisyphosarbeit. Zwar hatte die Legislative 1792 das Standesamt eingeführt und die Ehescheidung erlaubt, sie hatte mit dem Regelwerk zum »Prinzip der laizistischen Schule« der bis dahin alles beherrschenden katholischen Kirche die Kontrolle des Bildungswesens entrissen, und sie schließlich verpflichtet, die Priester zu bezahlen, die bis dahin dem Staat auf der Tasche gelegen hatten. Doch Napoleon Bonaparte und die Restauration beseitigten – »um die öffentliche Ordnung und den Religionsfrieden wiederherzustellen« – ziemlich schnell, was Revolutionäre und gewählte Abgeordnete erkämpft und beschlossen hatten. Das von Napoleon und Papst Pius VII. unterzeichnete Konkordat von 1801 gab den Katholiken zurück, was sie die nächsten 100 Jahre nicht mehr verlieren sollten: Schuldienst, Entlohnung der Kirchenfürsten und ihres Personals aus der Staatskasse, quasi »Beamtenstatus« für den Klerus – in Wirklichkeit ein »Diskordat«, wie die von Jean Jaurès gegründete Zeitung L’Humanité im Juni 2015 in einer Dokumentation zum Thema urteilte.
Der Sozialistenführer Jaurès holte 1904 das Thema »Staat und Kirche« ins Parlament zurück. Dies war dringend nötig angesichts eines Papstes im Vatikan (Pius XI.), der 1870 – auf die »Unfehlbarkeit« des »Stellvertreters Christi« und den damit einhergehenden »Primat« der Kirche pochend – verkündet hatte, »Gottes Gesetz« stehe über denen des Menschen; angesichts eines katholischen Klerus, der nach Köpfen zahlreicher als je zuvor war und der die überwiegende Mehrheit der französischen Kinder unterrichtete; angesichts einer katholischen Judenfeindlichkeit, die Ende des Jahrhunderts in der »Affäre Dreyfus« gipfelte, der falschen Anklage wegen angeblichen Hochverrats gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus. Jaurès erkannte darin eine »dreifache Gefahr« für die Republik: Antisemitismus, Nationalismus und das unchristliche Wirken der katholischen Kirche.
Doch blieben die Kämpfe, die Jaurès und andere wie etwa der Friedensnobelpreisträger Aristide Briand führten, wenig ertragreich. Als zu stark erwiesen sich ihre katholischen Gegner über die Jahrzehnte, die schließlich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Gleichschritt mit Charles de Gaulle, dem General und »Retter der Nation«, das streng kirchenkonforme Gesellschaftsmodell im Inneren wieder weitgehend etablierten und in den südostasiatischen und nordafrikanischen Kolonien auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen versuchten.
Schrittweise Aufweichung
»Immer wenn die politische Linke in die Defensive geriet«, dokumentierte L’Humanité, »wurde das Gesetz angegriffen.« Einige Beispiele illustrieren das. 1910: Das Gesetz wird nicht angewendet in den Kolonien, und nicht einmal in den französischen Departements Algeriens. 1919: Die Regierung der »Nationalen Einheit« lässt es in den drei Departements der Region Elsass-Mosel bei der alten Regelung – die dort bis heute gilt. 1940: Das Regime von Vichy übernimmt die antijüdische Gesetzgebung der deutschen Besatzer und gewährt der katholischen Kirche alle erwünschten Vorteile. 1959: Im Namen der »Freiheit der Lehre« lässt Michel Debré, Anführer der Mitte-rechts-Partei PR und erster Ministerpräsident der Fünften Republik, katholische Privatschulen, die auf einen entsprechenden Staatsvertrag verweisen können, wieder aus dem öffentlichen Haushalt finanzieren; den Konfessionsschulen, zu 95 Prozent katholisch, wird erlaubt, ihr anschließend vom Staat angestelltes und bezahltes Personal selbst auszusuchen. 1984: Der sozialistische Präsident François Mitterrand zieht ein Gesetz zurück, das den gesamten Bildungssektor unter staatlicher Aufsicht vereinen sollte. Statt dessen bleibt es bei der Trennung von öffentlichen und privaten Schulen. 2010: Marine Le Pen, Anführerin des extrem rechten Front National – aber auch der damals amtierende bürgerlich-rechte Präsident Nicolas Sarkozy, der sich im Oktober des Jahres mit dem deutschen Papst Benedikt XVI. trifft – betont zwar die Laizität der Republik, weist aber gleichzeitig auf deren »christliche Wurzeln« hin.
Regiert wird die Republik aktuell von einem bürgerlich-rechten und bekennend katholischen Präsidenten, Emmanuel Macron, der seine Schulzeit im jesuitischen Seminar »La Providence« (die Vorsehung) seiner Heimatstadt Amiens absolvierte, und von einem rechtsliberalen katholischen Ministerpräsidenten, François Bayrou, der seine Kinder im katholischen Internat Bétharram unweit seiner Heimatstadt Pau einschulte, in der er als Bürgermeister für regelmäßige staatliche Subventionierung dieser Schule sorgte.
Repräsentativ für die Bevölkerung ist das allerdings nicht. Am 30. März 2023 veröffentlichte das »Institut national de la statistique et des études économiques« (INSEE) einen seiner Jahresberichte zur »religiösen Diversität« in Frankreich. Demnach erklärten 51 Prozent der Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 59 Jahren, »keine Religion« zu haben. Die Zahl habe sich in den vergangenen Jahren ständig erhöht.
Die Macht des Klerus
Im Orwell-Jahr 1984 zeigten die katholische Kirche Frankreichs und das ihr zur Hand gehende rechte Bildungsbürgertum, welche Macht das vom Soziologen Pierre Bourdieu als geschlossenes System beschriebene religiös-politische Konglomerat entfesseln kann.
Frankreichs sozialistischer Präsident François Mitterrand hatte seit seiner Wahl im Mai 1981 versucht, eines seiner wichtigsten Versprechen umzusetzen: den Zusammenschluss des staatlichen Bildungssystems mit den Privatschulen, von denen mehr als 90 Prozent katholisch sind, und die Überführung des privaten Lehrpersonals in öffentliche Verantwortung und Kontrolle. Das »Projekt Savary« – benannt nach dem Schulminister Alain Savary – scheiterte am Widerstand des bürgerlich-katholischen Blocks, genannt »Mouvement de l’Ecole libre de 1984«.
Nachdem das Gesetz die erste parlamentarische Lesung überstanden hatte, organisierten bildungsbürgerliche Kreise – an ihrer Spitze der katholische Prediger Paul Guiberteau – eine Kundgebung in Paris, die in Sachen Masse und politische Relevanz bis heute ihresgleichen sucht. Guiberteau und der Präsident des Elternvereins UNAPEL, Pierre Daniel, mobilisierten am 24. Juni rund zwei Millionen Menschen. In der ersten Reihe des Protestzugs marschierten: die Bischöfe Jean-Marie Lustiger und Jean Vilnet, Simone Veil, Mitterrands Vorgänger Valéry Giscard d’Estaing mit Ehefrau Anne-Aymone, der zukünftige Staatspräsident Jacques Chirac Seite an Seite mit Jean-Marie Le Pen, Anführer des extrem rechten Front National. Bordeaux’ Bürgermeister Jacques Chaban-Delmas perhorreszierte eine »totalitäre Gesellschaft«, die es zu bekämpfen gelte. Am selben Abend, im Fernsehsender TF 1, zog Mitterrand das Gesetz zurück.
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