Der Geist aus der Puppe
Von Marc Hairapetian
Die zweite Chance im Leben wird wohl kaum irgendwo so dringlich heraufbeschworen wie in Joseph Conrads »Lord Jim« (1900), dem philosophischsten aller Abenteuerromane. Gut 65 Jahre später verfilmte Richard Brooks den Stoff eindrucksvoll im hochauflösenden Breitbildformat »Super Panavision 70« mit Peter O’Toole in der Titelrolle des unehrenhaft aus der Marine entlassenen Offiziers, der im südostasiatischen Dschungel die einheimische Bevölkerung im Kampf gegen den Kolonialismus (Piraten) unterstützt. Weitere 60 Jahre danach erhält nun auch die so bejubelte wie verdammte künstliche Intelligenz in Gestalt von M3GAN ihre zweite Chance: »M3GAN 2.0«.
Im 2023 erschienenen ersten Teil hatte die mit KI ausgestattete, einem zehnjährigen Mädchen nachgebildete Puppe M3GAN (Amie Donald im handgemachten Animatronicsgewand und in der Originalversion mit der Stimme von Jenna Davis versehen) so etwas wie ein Selbstbewusstsein entwickelt und zum Schutz ihrer kindlichen Besitzerin Cady (Violet McGraw) vier Menschen und einen Hund umgebracht. Deshalb wurde sie von ihrer Programmiererin, der Spieleentwicklerin Gemma (Allison Williams), zufällig Cadys Tante, vermeintlich zerstört. Vermeintlich, denn M3GANs programmierter »Geist« hatte es klammheimlich geschafft, sich in den Heimassistenten ihrer Schöpferin hochzuladen.
Im zweiten Teil nun missbraucht ein Rüstungsunternehmen – ohne Gemmas Wissen – die M3GAN-Technologie, um eine Waffe namens Amelia (genial als blonder Vamp mit bösem Blick: Ivanna Sakhno) zu entwickeln. Je mehr Selbstbewusstsein die Killermaschinenspionin entwickelt, desto weniger nimmt sie menschliche Befehle entgegen. Um die Bedrohung zu bekämpfen, lässt sich Gemma von ihrer Nichte Cady überreden, M3GAN zu reaktivieren.
Regisseur Gerard Johnstone, der wieder zusammen mit Akela Cooper und James Wan auch das Drehbuch geschrieben hat, macht mit der Fortsetzung weniger eine futuristische Horrorkomödie wie im ersten Teil, sondern eine inhaltlich wie formal komplexere Science-Fiction-Martial-Arts-Satire. Die ultramoderne Variante von Frankensteins Monster, das nun geläutert für die gute Sache gegen die aus dem Ruder gelaufene große KI-Schwester antritt, ist nicht mehr gruselig, dafür aber spannend und spart auch die obligatorische Kritik an multimedialer Reizüberflutung nicht aus.
Jede Menge Lacher gibt es dazu. So bei den popkulturellen Referenzen wie M3GANs an Céline Dion erinnernde melodramatische Gesangseinlage, um die sich selbst eine schlechte Tante scheltende Gemma zu trösten, die ihr aber lieber genervt den Puppenmund zuhält. Oder wenn zur Verfolgung von Amelia in einem Auto mit integriertem Sprachcomputer das »Knight Rider«-Intro erklingt. Folglich hat, anders als bei »Lord Jim«, das Ergreifen der zweiten Chance für M3GAN kein tragisches Ende, was einen dritten Teil wohl unvermeidlich macht.
»M3GAN 2.0«, Regie: Gerard Johnstone, USA 2025, 119 Min., Kinostart: heute
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Mehr aus: Feuilleton
-
Irre Streber
vom 26.06.2025 -
Das Erkennen ist zu Ende
vom 26.06.2025 -
Wer sind hier die Wilden?
vom 26.06.2025 -
Nachschlag: Mit Waffen des Drachen
vom 26.06.2025 -
Vorschlag
vom 26.06.2025