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Aus: Ausgabe vom 26.06.2025, Seite 10 / Feuilleton
Hardcore

Irre Streber

Turnstile stecken mit »Never Enough« die Welt in Turnschuhe
Von Ken Merten
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Es irrt die Band, solang sie strebt: Turnstile

Winterjacke und Verzerrer in den Keller, denn es ist »Turnstile Summer«! Den rief die britische Popsängerin und Songwriterin Charli xcx aus und verschaffte der Band aus Baltimore für ihr neues Album eine Aufmerksamkeit, die sie eigentlich nicht benötigt. Turnstile tingeln durch die Late Night Shows, sind der feuchte Traum jedes Hardcore hörenden Hipsters, und im großen Artikel der Londoner Onlinezeitung Independent zum Album reihte der Veranstalter des subkulturleitenden englischen »Outbreak Fest« Turnstile zu Innovationssuperkräften wie Fugazi und Bad Brains.

Chucks und Vans wurden weltweit verschlissen, so viele scharrten mit den Füßen, bis »Never Enough«, das vierte Album von Turnstile, Anfang Juni endlich den diesjährigen Sommer einläutete. Wird es ein schöner? Ja, aber nicht schön genug.

Das Sanfte, Seichte, Shoegazige scheint hier fast gar nichts Tiefes, Dunkles hinter der ausgesprochen hübschen Oberfläche zu haben; als wäre alles eingependelt. Vertonte Leif-Randt-Romane: Was, wenn alles schon ganz o. k. so ist und sich genießen ließe? Selbstbewusster Biedermeier, der in all dem Creméfarbenen Schlaglichter wirft auf das fortwährende große und kleine Unglück: Während die Familie am Weihnachtstisch sitzt, wird man sich (in »Allegro Pastell«, 2020) gemeinsam und ganz unpolitisch der transzendentalen Einigkeit über die Richtigkeit der scheidenden Herrscherin Angela Merkel bewusst, derweil die eine Tochter sich müht, am Gespräch teilzunehmen, damit ihre schweren Depressionen nicht etwa angesprochen werden, und die andere in interner Erwägung davon ausgeht, »dass die meisten in ihrem Umfeld sich eine globale Diktatur westlicher Wissenschaft wünschten, regional repräsentiert von Frauen, die viele Sprachen beherrschten und auf eine mütterliche Weise sympathisch aussahen«.

Sympathisch aussehend auch die schön vom Nichts handelnden Musikvideos von Turnstile zum Album: angenehme Naturaufnahmen, Wellenreiterei, ungefährliches und konsensuales Mitfahren im Kofferraum, spontane Parkkonzerte. Wobei der Ansturm auf Letzteres schon andeutet: Es geht bei allem Konsens nicht ohne Krach.

Das Mini-Woodstock im zweiten Teil des Doppelvideos zu »Seein’ Stars« und »Birds« kippt denn auch vom einzelnen, den wohl LSD anheizt, als stünden da vorne die MC5, zur sportlichen Stage-Dive-Show der Meute. Schließlich heißt es: »These birds not meant to fly alone.« Drummer Daniel Fang leitet hyperpräzise und mit der noch auf dem Vorgängeralbum »Glow On« inflationär benutzten Cowbell perkussiv zu eingängigem Hardcore Punk ein. Ein Kontrast zum schwelgerischen Hall mit dominantem Basslauf von Franz Lyons in »Seein’ Stars«, einem Track, von dem man sich vergebens wünscht, da finge aus heiterem Himmel Falco an, von jungen Römern zu singen. Weit weg ist das wiederum von der Fußballstadionnummer »Time is Happening«.

Wer wie Randt oder Turnstile eine im möglichst kleine CO2-Fußabdrücke machenden, angenehm zu tragenden Turnschuh steckende Welt präsentieren kann, der weiß, dass die nicht die finale ist. Sonst müsste er sie nicht widerspiegeln, ihm bliebe nur, in ihr zu verweilen und es genug sein zu lassen. Fugazi, Bad Brains, Turnstile: Es irrt die Band, solang sie strebt.

Wenn also am selben Tag wie »Never Enough« eine Band aus Nashville namens Orthodox ihr fünftes Album »A Door Left Open« (Century Media, 2025) publiziert und damit nomen est omen erneut alles dem Hardcore Häretische – die Jazzanteile der Plaudertaschen mit Instrument, das große gedachte und klein gemachte Keyboardklimbim und alles massentaugliche Geträller – als unnötiges Gedöns mit Nichtbehandlung straft und statt dessen mit der Wucht einer fortgesetzten Frontalkollision umzugehen weiß, dass es einen dauerhaft ergötzt, dann steckt hinter dem Verweis auf die friktionsreichen Zustände ja auch der insgeheime Wunsch, dass jene aufhören zu sein und anfingen, sich aufheben zu lassen. Es strebt der Mensch, solang er irrt.

Turnstile: »Never Enough« (­Roadrunner)

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