Das Erkennen ist zu Ende
Von Frank Schäfer
In seinen knappen Annotationen zu »Gras« für Hartmut Schnell beklagt Brinkmann ein paar Jahre später, der Gedichtband sei ziemlich untergegangen, weil er keine lauten Gedichte enthalte. Es ist wohl auch diese Enttäuschung, die ihn daran hindert, in den folgenden fünf Jahren ein Buch zu publizieren.
»Gras« wird kontrovers besprochen. Die Linke vermisst in diesen immer noch bewegten Zeiten vor allem ein klares politisches Statement. Das verweigert Brinkmann fast schon ostentativ. »Meine Biografie für Mao Tse-Tung«, ein Titel, bei dem man dergleichen erwarten sollte, ist das Gegenteil eines Agitpropgedichts, nämlich eine etwas rätselhafte Akkumulation privatistischer Gedanken und Eindrücke. Den Schlussvers könnte man geradezu als Absage an den linken Dogmatismus verstehen. »Das Erkennen ist zu Ende, das Leben fängt an.« Ein APO-Aktivist wie Yaak Karsunke kann damit jedenfalls wenig anfangen, folglich schmäht er Brinkmann in der Frankfurter Rundschau als »Vorgartenzwerg der US-Pop-Szene« und wünscht sich, dass »Gras über Gras wächst«. Auf diesen Witz war er sicher ziemlich stolz.
Die antibürgerliche Pop- und Protestpose in »Die Piloten«, die man leicht als gesellschaftspolitisches Revoluzzertum missverstehen konnte, ist hier deutlich zurückgenommen zugunsten eines forcierten Impressionismus. Das, was dem lyrischen Ich alltäglich ins Bewusstsein blitzt, versucht er hier, noch radikaler, das heißt unmittelbarer, aufs Papier zu bekommen.
Brinkmann schildert im bereits zitierten Brief an Hartmut vom 23. Dezember 1974 recht plastisch seine Vorgehensweise. »Beim Schreiben eines Gedichts überlasse ich viel dem momentanen Zufall, sowohl hinsichtlich des Inhalts wie der Form. Ich fange mit einer Zeile, einem Eindruck an, die mir auffällt, mir gefällt, mir seltsam erscheint, oder einfach klar ist, und dann gehe ich davon aus. Blicke ich von den Tasten der Schreibmaschine an irgendeiner Stelle auf und sehe ich oder höre ich dann etwas Auffälliges in meiner direkten Umgebung, z. B. eine Zeile aus einem Rock-’n’-Roll-Lied von einer Schallplatte, die vielleicht dann gerade abläuft, so füge ich sie dem Gedicht ein.«
Diese Methode birgt zwei Gefahren. Für beide gibt es Beispiele in diesem Gedichtband. Zum einen ist der eingefangene Wirklichkeitsausschnitt bisweilen schlicht zu banal, als dass sich seine Beschreibung wirklich lohnt. So zum Beispiel beim Prosagedicht »Kaffee trinken (1)«: »Ich nehme etwas Milch und zwei Löffel Zucker und rühre in der Tasse, die vor mir steht. Dann nehme ich die Tasse hoch, trinke und setze sie wieder ab.«
Zum anderen führt dieser totale Subjektivismus auch schon mal zu einer Verrätselung, die Brinkmanns Poetik ja eigentlich ganz zuwiderläuft. Wenn er kontextlos und unvermittelt, also ohne rezeptionssteuernde Hinweise den disparaten Bewusstseinsstrom mitstenographiert, lässt sich die Wahrnehmungsstreu nicht immer in einen irgendwie kohärenten Zusammenhang bringen. Das Gedicht zerfällt in Bestandteile, die nur noch das Autorensubjekt sinnvoll verbinden kann. Das »Gedicht ›Für Frank O’Hara‹« zum Beispiel: »Haarspray, Sun Tan Lotion und … ich weiß nicht, was man / noch alles braucht, um eine ›gute‹ Figur zu machen. Eine Re- / flexion über die Möglichkeiten, / eine großartige Sache auf die Beine zu / stellen, / langweilt mich gewaltig, aber wenn / jemand im Zimmer ist, den ich hasse, rede ich auch stunden- / lang darüber, wenn mir sonst nichts einfällt …«.
In diesem Gedicht liest man zum ersten Mal die formal abwechslungsreiche, die Verse in Länge und Anordnung wild variierenden Verspartitur, die seinen letzten Gedichtband »Westwärts 1 & 2« prägt und die einen regelmäßig überfordert, aber aus einem kaum erklärlichen Grund dann doch wieder durchaus suggestiv und passagenweise sogar ganz eingängig sein kann. Und es gibt auch »diese kleinen Alltagsdinger« (Uli Becker), die gerade wegen ihrer Schlichtheit betören. »Kippen«: »… der Wecker ›fing an‹ / es war der Heizöl-Mann, / der um sieben Uhr morgens / mit dem Wagen mitten / auf der Straße stand / es war kalt, / ich hatte in der Eile / vergessen, mir die Schuhe / anzuziehen / Mädchen in Telefonhäusern / um diese Zeit, / sind eine Seltenheit / sieben Uhr morgens und / beim Öffnen der Schachtel fluchen.«
Im Grunde gibt es gar keinen Bruch in seinem lyrischen Werk. Brinkmann hat sich ausprobiert und mit seinen Hörtexten, Essays, Tagebüchern und nicht zuletzt den Collage- und Materialbänden formal diversifiziert, aber »Westwärts 1 & 2« ist kein Neuanfang, sondern eine konsequente Weiterentwicklung der »Gras«-Lyrik.
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