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Aus: Ausgabe vom 25.06.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Im inneren Exil

Coming-of-Age in der Türkei der 90er Jahre: Nehir Tunas Spielfilmdebüt »Yurt«
Von Wolfgang Nierlin
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Freunde fürs Leben: Ahmet (Doğa Karakaş) und Hakan (Can Bartu Arslan)

Im Herbst 1996 gibt es in der Türkei Spannungen zwischen religiösen und säkularen Türken. In Nehir Tunas vielschichtigem Coming-of-Age-Film »Yurt« ist die Figur des 12jährigen Ahmet (Doğa Karakaş) dafür exemplarisch. Der verträumte, nachdenkliche Junge besucht einerseits ein Privatgymnasium, wo er Englisch lernt, andererseits übernachtet er im Schlafsaal eines jener Heime, die vom Staat als Hort des islamischen Extremismus angesehen werden. Vor seinen Mitschülern verheimlicht Ahmet seine Unterbringung, während er in dem religiösen Internat Neuling und Außenseiter ist. Seine sauberen Schuhe, eine antike Münze oder auch eine moderne Armbanduhr deuten darauf hin, dass er im Gegensatz zu den anderen Zöglingen aus gutsituierten sozialen Verhältnissen stammt. Sein konservativer Vater Kerim (Tansu Biçer), der das Heim unterstützt und auf seine Weise ebenfalls die Widersprüche in sich trägt, ist für den innerlich zerrissenen Jungen ebenso Vorbild wie Gegner. Im Spiegelbild eines Fensters liegen ihre gerahmten Gesichter einmal kurz übereinander.

»Yurt« (was sowohl »Heim« als auch »Heimat« bzw. »Vaterland« bedeuten kann) zeigt das religiöse Internat als ein Gefängnis aus Unterdrückung und Kontrolle. Wer sich nicht anpasst und unterordnet, wird bestraft. Ein autoritärer Hodscha (Ozan Çelik) wacht mit unnachgiebiger Strenge über die Einhaltung der Regeln und Gebote des hierarchisch gegliederten Systems. Körperliche Züchtigungen und Willkür sind an der Tagesordnung und werden religiös begründet. Als die staatliche Polizei einmal eine Kontrolle durchführt, verbrennt man im Vorfeld islamistische Flugblätter und versteckt arabische Bücher und hängt schnell ein Porträt von Atatürk auf, um den Schein zu wahren.

Man müsse das Richtige tun und sein Ego als einen Ort schlechter Gedanken unterdrücken, um sich vor dem Bösen zu schützen und nicht in der ewigen Hölle zu schmoren, sagt Ahmets Mitschüler und baldiger Freund Hakan (Can Bartu Arslan). Dieser hat es bereits geschafft, sich zwar äußerlich anzupassen, aber zugleich seine innere Freiheit zu bewahren.

In seinem beeindruckenden Langfilmdebüt verdeutlicht Nehir Tuna diese Widersprüche, indem er kontrastreiche Schwarzweißbilder in ein enges Bildformat gleichsam einschließt. Erst gegen Ende des Films führt Ahmets Suche nach Liebe, Zugehörigkeit und Freiheit aus einer grauen in eine farbige Welt. Die erste Verliebtheit in eine neue Mitschülerin, Ahmets Entdeckung der eigenen Sexualität sowie seine innige Freundschaft zu Hakan lassen ihn erwachsener werden. Dazu kommt sein innerer, als Stärke erlebter Widerstand gegen scheinbar übermächtige Autoritäten und die Loslösung von einem Vater, der sich durch die religiöse Unterweisung seines Sohnes von eigenen Fehlern und Versäumnissen reinwaschen will. Bald muss Ahmet, der sich nach anfänglichen Zweifeln eifrig um Anpassung bemüht, jedoch feststellen, dass ihm das Gefühl für einen echten Glauben fehlt. Diese als wesentlich erfahrene Differenz führt ihn schließlich zur selbstbewussten Freiheit in einem inneren Exil.

»Yurt«, Regie: Nehir Tuna, Türkei/BRD/Frankreich 2023, 116 Min., bereits angelaufen

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