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Aus: Ausgabe vom 21.06.2025, Seite 8 / Ansichten

Systemische Störungen

Arcelor-Mittal verzichtet auf »grünen« Stahl
Von Daniel Bratanovic
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Kokerei Prosper in Bottrop

Beständig und berechenbar ist unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsweise gar nichts, deren Modus vivendi heißt Disruption. Es ist noch gar nicht so lange her, da schien bei Konzernvorständen und Repräsentanten großer kapitalistischer Staaten Einigkeit darin zu bestehen, dass die fortschreitende globale Erwärmung und deren jetzt schon allerorten so sichtbare wie dramatische Folgen eine rasche Reduktion des CO2-Ausstoßes vor allem in der ­Industrieproduktion dringend erforderlich machen. Und sei es, um eine auf Ausbeutung gegründete Wirtschaftsordnung am Leben zu halten, denn ein Planet, auf dessen Gratisdienste sich nicht mehr zurückgreifen lässt, weil er Wüstenei oder Müllkippe geworden ist, nützt auch dem skrupellosesten Kapitalisten nichts.

Inzwischen ist das fossile Rollback in den großen Industrienationen in vollem Gange. Dekarbonisierung ist längst nicht mehr so in wie vor fünf Jahren. Das Problem besteht in einem strukturellen Makel: Kapital kann nicht planen. Auf der Jagd nach schnellstmöglichem Profit erscheinen grundlegende Umstellungen in der Produktionstechnik bald als unrentabel und werden aufgegeben. Das lässt sich näher studieren.

Der Stahlgigant Arcelor-Mittal hat seine jüngste Entscheidung, die Stahlwerke in Bremen und Eisenhüttenstadt nun doch nicht auf eine klimaneutrale Produktion ohne Kohleverbrennung umzustellen, mit der aktuellen Marktsituation und fehlender Wirtschaftlichkeit begründet. Wo kein rentables Geschäft winkt, da keine Neuerungen. Die Zukunft kann warten, nach uns die Sintflut oder eben die Wüste. Das wiederum könnte das Aus für die beiden Werke bedeuten, Jobvernichtung inklusive.

Das Signal, das vom weltweit zweitgrößten Stahlhersteller ausgeht, könnte aber auch das staatsmonopolistische Projekt »grüner« Stahl in Deutschland insgesamt gefährden. Staatsmonopolistisch? Ohne eine staatlicherseits zugesagte Förderung in Höhe von 1,3 Milliarden Euro hätte Arcelor-Mittal nicht einmal darüber nachgedacht, in neue Anlagen zu investieren, in denen Stahl irgendwann mit »grünem« Wasserstoff klimaneutral hätte hergestellt werden können.

Bei dem Vorgang schürzen sich gleich mehrere Widersprüche zu einem Knoten. Stahlunternehmen in Deutschland stehen angesichts von Überkapazitäten unter Druck, weil sie auf dem Weltmarkt kaum mehr konkurrenzfähig produzieren können. Der deutsche Staat wiederum kann solche Weltmarktprozesse nicht einfach geschehen lassen, denn die Produktion von Stahl als Ausgangsmaterial von zum Beispiel Kriegsgerät ist strategisch unverzichtbar. Die Umstellung auf die neuen Herstellungsmethoden krankt vor allem daran, dass eine dafür notwendige Wasserstoffversorgung noch nicht existiert und auch nicht klar ist, woher der »grüne« Wasserstoff kommen soll. Dieser Staat will »grünen« Stahl, der sich bisher nicht rentiert, darf aber niemals seinem Daseinszweck widersprechen und Privateigentum wie Marktwirtschaft antasten. Systemische Grenzen.

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  • Leserbrief von Frank Graf aus Marburg (24. Juni 2025 um 20:09 Uhr)
    Der Autor bietet bei dem Versuch, ein von Beginn an zum Scheitern verurteiltes Projekt – die Produktion von »grünem« Stahl unter den derzeit in Deutschland herrschenden Bedingungen – schön zu reden, zwar einiges an argumentativer Gymnastik auf, doch zu überzeugen vermag er damit nicht. Die für »grünen« Stahl notwendigen Änderungen im Produktionsverfahren »erscheinen« nicht nur unrentabel, sondern sind dies unter den Auspizien der »Energiewende« deutscher Provenienz tatsächlich. Der hiesige Industriestrompreis ist auf absehbare Zeit zu hoch, preislich konkurrenzfähiger »grüner« Wasserstoff in ausreichenden Mengen ist nirgends in Sicht, so dass Arcelor die Planungsgrundlage fehlt, um das Projekt anzugehen. Das Problem besteht also gerade nicht »in einem strukturellen Makel: Kapital kann nicht planen«, sondern im Gegenteil darin, dass die dysfunktionale deutsche Energiewende den Einzelkapitalen jeden Geschäftsplan zunichte macht. Die Energiewender hätten ihren Blick besser gen Osten Richtung China gerichtet und den Rat des erfolgreichsten kommunistischen Politikers des vergangenen Jahrhunderts, Deng Xiaoping, berücksichtigt: »Es spielt keine Rolle, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, wenn sie eine Maus fängt, ist sie eine gute Katze.« China entwickelt selbstverständlich alle vorhandenen Produktivkräfte und schließt keinen Energieträger aus: Sonnen- und Windenergie wird ebenso weiterentwickelt und ausgebaut wie auch die Nutzung von fossiler Energie und Kernenergie. Wegen des breiten Stromangebots liegt der Industriestrompreis in China deutlich unterhalb des deutschen Preisniveaus, so dass die energieintensiven Industrien dorthin abwandern; weder auf kurze Frist angelegte Subventionen noch ein bis zum Sankt Nimmerleinstag ausgelobter schuldenfinanzierter »Brückenstrompreis« werden diesen Trend umkehren. Die deutsche Deindustrialisierung ist kein Reflex systemischer Grenzen des Kapitalismus, wie Bratanovic mutmaßt, sondern das Resultat einer völlig verfehlten Energiepolitik.

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