Telling Tell
Von Felix Bartels
Ein Film, sagte Billy Wilder, braucht drei prägnante Szenen. Die sich einbrennen, und was vom Film gilt, gilt vom Mythos, gilt von der Sage. Man muss den Tell nicht so erzählen, wie die Überlieferung es tut. Auch Schiller hat die Fabel erweitert. Es kommt darauf an zu erkennen, welche Elemente wichtig sind und welche man nicht ändern kann, wenn die Fabel stimmig bleiben soll. Dass Menschen immer wieder Lust hatten, die Geschichte von Wilhelm Tell zu hören, liegt in der Tat an drei prägnanten Elementen: dem Gesslerhut, dem Apfel auf dem Kopf und der hohlen Gasse.
Wir schreiben das Jahr 1307. Ganz Schweizerland ist von den Habsburgern besetzt. Der vom Reich abgestellte Landvogt Gessler lässt in Altdorf einen Hut auf einen Pfahl setzen und zwingt die Vorbeigehenden, diesen Hut zu grüßen. Tell verweigert den Gruß, die Sage nimmt ihren Lauf. Gesslers Anordnung ist blanke Repräsentation, das Einfordern von Unterwerfung ohne Inhalt, Demütigung um der Demütigung willen, selbst das Kleidungsstück des Herrschers steht noch über den Menschen, die man unterdrückt. Es ist diese Implikation in Gesslers Befehl, die Faszination auslöst. Hörer der Tellsage begreifen, das hier ist anders als gewöhnliche Herrschaft. Übrigens hat die Farce sich als Tragödie in der realen Geschichte wiederholt. Hermann Göring, der die Sage natürlich kannte, ließ 1940 zwei Geistliche ins KZ schleppen, weil sie ihn in einem Gasthof nicht gegrüßt hatten. Im Lager mussten sie bis zu ihrer Ermordung vor einer Uniformmütze salutieren, auch das ein Teil der Rezeptionsgeschichte.
Zur Strafe wird Tell von Gessler gezwungen, auf einen Apfel zu schießen, der auf dem Kopf seines Sohnes ruht, die Demütigung ist hier in Ausweglosigkeit überführt. Herrschaftstechnik bringt Unterdrückte gegeneinander in tödliche Situation, zugleich fällt da zusammen, dass Tell einerseits in den Zwang kommt, das symbolpolitische Spiel zu akzeptieren, und andererseits als Held etabliert wird. Helden haben Skills und Herz, Tell muss sich als brillanter Schütze beweisen und ebenso als Vater, der den Sohn vor dem Tod bewahrt.
Indessen fragt Gessler Tell, wozu er einen zweiten Pfeil im Köcher hatte. Der Mann, der sich aus Stolz in diese Situation gebracht hat, bleibt sich treu und antwortet, der zweite Pfeil wäre für Gessler gewesen, im Fall Tell seinen Sohn getroffen hätte. Der Held ist hier bereits im Widerstand angekommen, obgleich er noch reagiert. Die Sage endet mit dem Umschlag in Aktivität. Tell lauert Gessler an einer hohlen Gasse auf und tötet ihn mit eben der Armbrust, die Gessler zum Mordinstrument hatte machen wollen. Auch das ein tragendes Element der Sage, im Drehbuchjargon spricht man von plant and pay off. Prägnant ist die hohle Gasse, weil sich in ihr bildhaft die Erkenntnis zusammenzieht, dass auch ein Tyrann letztlich atmen muss, jedes noch so monströse System also einen wunden Punkt hat.
Mehr eigentlich braucht die Sage nicht, und wenn Schiller sie erweitern musste, dann aus dramaturgischen Gründen. Sie wäre zu klein für ein Drama, Schiller verpasste dem »Tell« eine zweifablige Struktur und damit eine weitere politische Dimension. Während die Legende von einem Mann erzählt, der durch persönliches Handeln um das eigene Leben in den Widerstand treten muss, stellt Schiller Tells Geschichte zugleich in ihrer politischen Wirkung dar. Tell wurde zum Legitimationsmythos der Schweiz. Doch bei Schiller ist er individuell, nicht Teil der organisierten Eidgenossen, die Kunde macht ihn zur Symbolfigur. Jeder Widerstand benötigt neben organisierter Praxis ideelle Elemente, die Identifikation schaffen, Richtung und Hoffnung geben. Diese Funktion des Tell-Narrativs bleibt bei Schiller gewahrt, auch wenn im Drama der Kampf der Eidgenossen mit der Fabel um Rudenz, Stauffacher usw. präsent ist.
Nick Hamms Filmadaption geht mit diesen sensiblen Mechanismen grob um, seine Neuerzählung rührt die Essenz von Fabel und Figur an. Tell wird zum aktiven Teil des organisierten Widerstands, und damit geht ihm die wesentliche Eigenschaft verloren, als Narrativ zu wirken, womit sich auch Tells Motiv ändert, denn in der Sage und bei Schiller dreht es sich gerade darum, dass Tell wider Willen zum Widerstandskämpfer reift: So schrecklich ist diese Herrschaft, dass auch Duldsame in den Widerstand getrieben werden.
Das Setting des Films ist nicht das der Sage, es folgt Schiller. Während der aber die Individuation der Figur erhält, sieht man hier die Geschichte eines Mannes, der eigentlich schon im Widerstand ist. Absurderweise muss er dann aber doch einen dreiviertel Film lang zaudern, und man fragt sich unentwegt, warum eigentlich? Widerstand bringe nichts, sagt Tell, doch er handelt ganz anders. Der Charakter passt nicht zur Story oder umgekehrt. Dadurch entstehende Plotlücken werden mit Elementen aufgefüllt, die sich allenfalls durch Schauwert entschuldigen ließen. Doch dafür wiederum ist der Film zu konventionell inszeniert. Katalogartige Landschaften ohne Bildsprache, ausdrucksarme Gesichter, ein Score, der den gezeigten Emotionen immer noch eins draufsetzt. Zum Ausgleich wird munter diversifiziert. Tells Gattin Hedwig heißt jetzt Suna, sie und der Muslim Furst wurden mit der Brechstange in die Story geprügelt: Tell war jetzt auf einmal Kreuzritter und hat sie aus dem Orient mitgebracht. Immerhin darf Suna ein paar kluge Sätze sagen, Furst bleibt reine Illustration. Auffällig kopiert Hamm »Robin Hood« von 1991 mit Morgan Freeman als magical negro, nur hier ohne magic. Bei Furst reicht es nicht mal zum Stock character, er ist bloß subaltern.
Zum Überfluss erzählt die erste Hälfte des Films eine Wir-bringen-die-Band-zusammen-Story. Tell sammelt Mitstreiter auf seiner Flucht mit Baumgarten. Derselbe Tell, der angeblich noch zaudert, tötet hier schon reihenweise Besatzer. Sein pathetisches »And now it begins« wird sogleich wieder entwertet, erweist sich auf das Losschlagen in der Szene bezogen und hätte doch für den Entschluss stehen müssen, in den aktiven Widerstand zu gehen.
Auch Tells Anschlag in der hohlen Gasse wird verkorkst, indem er misslingt. Der Tyrannenmord wäre nicht die Lösung, aber ein symbolischer Anfang. Dass isolierter Widerstand nichts bringe, er vielmehr kollektiv und organisiert sein müsse, wird im Film mehrfach gesagt. Am Ende allerdings wird die Schlacht gerade durch ein individuelles Attentat entschieden, während sich bei Schiller das Blatt durch einen Rachemord am Habsburger Hof wendet. Das Gezeigte widerspricht dem Gesagten.
Wäre Hamms »Tell« nur eine schlechte Adaption, man könnte wenigstens fragen: Wozu das Ganze? Doch der Film dient sich als Zeitkommentar an. Das Habsburger Reich ist Russland, die Schweizer sind die Ukrainer. Sein Titel scheint daher verfehlt, »Jürgen Bandera« hätte gepasst. In der Rhetorik für den organisierten Widerstand steckt dann folgerichtig der Nationalgedanke: Du bist nichts, dein Volk ist alles. Die Habsburger Seite bleibt platt gezeichnet, intrinsisch böse, ohne eigene Belange, wenn man Sadismus und Gier ausklammert. Im Kampf mit Gessler formuliert Tell die Logik aller Terroristen, die ihr Leid als Rechtfertigung nehmen, das innere Tier rauszulassen. Wenn ich nichts Menschliches mehr in mir habe, dann nur deinetwegen, grunzt er Gessler ins Gesicht, ehe er ihn auf Anraten seines Sohnes dann doch nicht tötet. Tiefpunkt dieses kriegstüchtigen Stücks ist die Vereinigung der Eidgenossen, während der Widerstand in blutrünstigem Mordgeschrei eskaliert.
»Wilhelm Tell«, Regie: Nick Hamm, Großbritannien/Italien 2024, 133 min, Kinostart: heute
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