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Aus: Ausgabe vom 12.06.2025, Seite 10 / Feuilleton
Theorie

Das Tier tötet, der Mensch mordet

Vor 40 Jahren starb Helmuth Plessner. Anlass für den Reclam-Verlag, zwei Essays des Philosophen und Anthropologen zu veröffentlichen
Von Martin Küpper
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Das Problem der Unmenschlichkeit untersuchen: Helmuth Plessner (4.9.1892–12.6.1985)

Warum wird jemand Philosoph? Dafür gibt es annähernd so viele Gründe, wie es Philosophen gibt. Als Helmuth Plessner (1892–1985), der Mitbegründer der modernen Anthropologie, in einem Café gefragt wurde, warum er einer geworden sei, soll er mit der linken Hand seinen von Geburt an gelähmten rechten Arm hochgehoben und mit Schwung auf den Tisch geschlagen haben. Aufgrund seiner Behinderung konnte Plessner weder ein Instrument erlernen noch die Arztpraxis seines Vaters übernehmen. Auch verheizte man ihn im Ersten Weltkrieg nicht als Kanonenfutter. Statt dessen wurde die Stellung des Menschen und seine wechselseitige Beziehung zur belebten und unbelebten Umwelt zu einem der wichtigsten Themen des überaus vielseitigen und produktiven Philosophen. Bekannt wurde Plessner vor allem mit dem Begriff der exzentrischen Positionalität. Anders als bis dahin in der Philosophie üblich, ging er davon aus, dass der Mensch in eine Umwelt gestellt ist und sich aus seiner biologischen Verfassung heraus außer sich setzt, sich also reflexiv zu sich und seiner Umwelt verhalten muss.

Als Plessner am 22. November 1952 das Katheder des Instituts für Soziologie an der Universität Göttingen bestieg, entschied er sich, nicht über Soziologie zu sprechen. Plessner, der 1933 wegen seiner »jüdischen Herkunft« nach einem kurzen Aufenthalt in der Türkei schließlich im beschaulichen Groningen landete und dort den Zweiten Weltkrieg unter zum Teil abenteuerlichen Umständen überlebte, wählte kein erbauliches Thema. Sein Vortrag vor den neuen Studenten und Kollegen, die zum Teil in die Naziherrschaft verstrickt waren, handelte von »Menschenverachtung«. Der Reclam-Verlag hat diesen nun, zusammen mit dem 1967 gehaltenen Vortrag »Das Problem der Unmenschlichkeit«, in einer kleinen Broschüre neu herausgegeben und mit einem Nachwort von Markus Rieger-Ladich versehen.

Plessners Thema des Vortrags ist die »Vergesellschaftung der Menschenfeindlichkeit«, die längst »öffentliche Macht« sei. Sie entspringe dem Widerspruch von Ohnmacht und Freiheit. Die praktischen Möglichkeiten des Menschen stehen auf Kriegsfuß mit der Wirklichkeit. Was wäre möglich, wenn die Menschen das Gute, das sie wollen, in die Tat umsetzen würden? Armut abschaffen? Obdachlosigkeit beenden? Kriege vereiteln? Alles eine Frage des politischen Willens? Im Gegensatz zum Menschenfreund erhebt der Menschenhasser das Kleinliche, Niederträchtige und Ehrlose zur Regel, auf das er mit Hass und Aggression reagieren kann, um sich selbst zu erhöhen und in dem von ihm erkannten Elend zu bestehen. Die Menschenverachtung ist der Herrschaft nützlich, weil sie erstens den Boden für tatsächliche Grausamkeiten bereiten kann und zweitens, weil sie sich ins Abstrakte und Unpersönliche verlagern kann, somit von der Anstrengung ablenkt, Schritte zur Verbesserung der Verhältnisse zu unternehmen. Plessner versucht auch zu erklären, welche Tendenzen in einer konkurrenzbasierten Gesellschaft Menschenverachtung begünstigen. Er nennt vier: Vermassung, Bürokratisierung, Verwissenschaftlichung des Lebens und – nicht zuletzt – der Unglaube in einer offiziell religiösen Welt. Das ist wertfrei und unromantisch gemeint, bedürfte aber zumindest für unsere Breiten einer Aktualisierung. Was Plessner noch zu Recht als neue Qualität erschien, ist heute längst abgeschlossen.

»Mit dieser vital nicht eben zweckmäßigen und riskanten, labilen und zu ständiger Umbildung reizenden Gesellungsform muß der Mensch fertig werden, als Verstandes- wie als Trieb-Wesen mit körperlichen Bedürfnissen«, sagte er 15 Jahre später. Der Philosoph warnt jedoch vor vorschneller Moralisierung, vor dem Versuch, der unmenschlichen Wirklichkeit eine menschliche entgegenzusetzen. Denn gerade in der beschleunigten gesellschaftlichen Realität verstehen sich moralische Kategorien nicht von selbst. Den naheliegenden Versuch, das Unmenschliche auszusondern, es dem Menschlichen gegenüberzustellen oder gar mit dem Tierischen im Menschen zu erklären, lehnt er ab. Das Tier tötet, der Mensch mordet. Das Unmenschliche liege seit jeher in der Sphäre des Menschen, dessen Makel die »Maßlosigkeit« sei. Unmenschlich kann deshalb nur sein, wer sich selbst verneint, indem er den wehrlosen anderen zu vernichten sucht, er den »Willen zur Zerstörung jeder Art von Schwäche« in die Tat umsetzt, was nicht mit physischer Gewalt einhergehen muss.

Was also tun? Plessner schlägt, nicht ohne religiöse Anleihen, »Formen der Versöhnung« vor und bindet sie an das Verhalten des Einzelnen zurück: Rücksichtnahme, Zuwendung, Barmherzigkeit und Vergebung. Das kann man aus antireligiösem Reflex ablehnen. Man kann auch kritisieren, dass es Plessner nicht gelingt, die Auflösung des Widerspruchs von Ohnmacht und Freiheit mit der Selbstbefreiung der Habenichtse zu verbinden. Für die politische Praxis bleibt das von ihm benannte Problem aber bestehen: Woher nimmt die Befreiung ihre Normativität? Denn jede Definition des Menschlichen ist immer schon eine Perspektive auf die zu erringende Praxis.

Helmuth Plessner: Unmenschlichkeit und Menschenverachtung. Zwei Essays. Reclam-Verlag, Stuttgart 2025, 70 Seiten, 7 Euro

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