Der hirntote Patient
Von Gert Hecht
Es ist nicht alles schlecht an der Sozialdemokratie. Dieser Tage zum Beispiel macht die SPD den Eindruck, dass sie weder so geil auf Aufrüstung wie die Grünen noch so erpicht aufs Ausbluten der Bevölkerung wie die Unionsparteien ist. Schade nur, dass sie beides durchsetzt, das Schlechte überwiegt doch. Wenn Thomas Piketty und Michael Sandel in dem schmalen Band »Die Kämpfe der Zukunft. Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert« über die Erneuerung des sozialdemokratischen Projekts sprechen, können sie nicht ignorieren, was heute daraus geworden ist. Zwar ließe sich sogar einiges darüber sagen, was in der Vergangenheit aus der Sozialdemokratie wurde (auch wenig Gutes nämlich), doch das ist nicht der Gegenstand des Büchleins, das sich bereits im Titel verpflichtet, der Zukunft zugewandt zu sein. Kurz und gut, worum geht es?
Will man die Überlegungen des französischen Starökonomen und Wirtschaftshistorikers Piketty (»Das Kapital im 21. Jahrhundert«, »Kapital und Ideologie«) und des etwas weniger berühmten US-amerikanischen Philosophen Sandel (»Das Unbehagen in der Demokratie«) auf einen Satz bringen, so ist es dieser: »Es kommt darauf an, wer den Staat kontrolliert, was man aus dem Staat und mit ihm macht.« Schon Marx wusste, dass Fragen der Staatsverfassung Machtfragen sind und dass also Politik sich mit der Veränderung der Machtverhältnisse zu beschäftigen hat, um die Staatsverfassungen zu verändern. Über den westlichen Staat heute haben Piketty und Sandel außerdem zu sagen, dass er ein Klassenstaat ist. Und über die heutige Sozialdemokratie, dass sie diese Tatsache so erfolgreich zu ignorieren gelernt hat, dass sie bei der falschen Klasse gelandet ist.
»Wir haben angefangen, ein Rechtssystem aufzubauen, das im Grunde dafür gemacht ist, dass die Reichsten sich jeder Gemeinschaftspflicht entziehen können. Und dann tun wir so, als sei das ganz natürlich«, sagt Piketty, der in dem abgedruckten Gespräch insgesamt mehr Redeanteile hat. Seine Analyse ist, dass der Gesellschaftsvertrag aus der Mitte des 20. Jahrhunderts von oben zerfällt. Die Reichen und Wohlhabenden wollen sich aus ihrer Verpflichtung zum sozialen Minimum befreien, ideologisch inzwischen flankiert durch einen Vulgärliberalismus, der sich libertär nennt. Weil die oben, wie Quinn Slobodian in seinem Buch »Kapitalismus ohne Demokratie. Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen« gezeigt hat, nicht mehr wollen, fühlen sich auch die Mittelklassen nicht mehr an den alten Klassenkompromiss gebunden.
Es herrscht Klassenkampf im Westen. Geführt wird er von oben und mit der Waffe der Austerität, wie man in Clara Matteis »Die Ordnung des Kapitals« nachlesen kann. Die politisch desorientierten und panisch verblödenden Mittelklassen ahnen, dass es auch ihnen an den Kragen geht, inklusive ihrer liebgewonnenen kleinbürgerlichen Ideologieprojektchen (»Wokismus«). Und noch weiter unten schlagen Resignation und Fatalismus in Wut und Hass um, was vor allem von rechts erfolgreich ressentimentbewirtschaftet wird. Also husch, husch, schnell hinter die »Brandmauer«, wo der Pöbel auf Abstand bleibt? »Ich denke, die regierenden Links- und Mitte-links-Parteien sollten die Schuld bei sich selbst suchen und sich darüber klar werden, dass sie selbst den Internationalismus und die Globalisierung so organisiert haben, dass normale Menschen sie hassen mussten«, sagt Piketty.

Selbstkritik im linken Lager? Echt jetzt, Herr Piketty? »Das fällt politisch nicht immer leicht, da es einfacher ist, Figuren wie Trump und die Misogynie und Xenophobie anzuprangern, an die er appelliert, als sich zu fragen, inwiefern das Mainstreamprojekt der progressiven Politik in den letzten Jahrzehnten mitverantwortlich für legitime Beschwerden von Arbeitern und Menschen ohne höheren Bildungsabschluss ist«, so Piketty weiter. Dem ist schwer zu widersprechen. Und noch schwerer ist der Weg zurück zur Klasse. Wer es bis jetzt noch nicht ahnte: Unter den deutschen Politikern ist Sahra Wagenknecht diejenige, die sich unter anderem in ihrem Buch »Die Selbstgerechten« am deutlichsten auf Pikettys Analysen bezogen hat, an denen es – das soll nicht unterschlagen werden – auch Kritik gegeben hat, wie von Stephan Kaufmann und Ingo Stützle.
Das Problem der heutigen Linken, sagt Piketty zu Sandel, sei Folgendes: »Sie haben nicht nur nicht in Frage gestellt, wie die Wirtschaft organisiert ist, sondern haben, wie Sie selbst sehr gut gezeigt haben, diese Organisation wie niemand sonst vorangetrieben.« Dazu kam, dass Klassenfragen durch Fragen der symbolischen Repräsentation ersetzt wurden (»Identitätspolitik«). Die »exzessive Globalisierung, der Freihandel und die Finanzialisierung« wurden durch den »progressiven Neoliberalismus« (Nancy Fraser) ideologisch abgesichert. Auf der Strecke blieb, was die Rechte nun in verzerrter Form wieder auf die Agenda setzt: »Jobverlust, Handel, Wettbewerb, Verkehr, Wohnen – viel mehr als Identitätsfragen sind das die konkreten Probleme, die zu dem Gefühl geführt haben, von den Mitte-rechts- wie Mitte-links-Parteien im Stich gelassen worden zu sein.«
»Individuelle Aufwärtsmobilität ist aber, mit dieser Einsicht sollten wir beginnen, keine angemessene Antwort auf Ungleichheit.« Was Piketty und Sandel vorschwebt, ist Sozialdemokratie als Klassenunterfangen von unten. Sie nennen zwei Schlagworte: Umverteilung und Dekommodifizierung. Was Umverteilung heißt, ist leicht vorzustellen. Die reichen wenigen besteuern, um einen öffentlichen Reichtum für die vielen zu schaffen. Es geht statt Kürzungen um Mehrausgaben – und zwar für alles, was dem Leben dient, also nicht fürs Militär. »Wir müssen uns irgendwann darüber klar werden, dass sich der wachsende Bedarf für Gesundheitsversorgung, Krankenhäuser und Hochschulbildung schlicht und einfach nicht decken lässt, wenn man dies mit einem feststehenden Anteil des Nationaleinkommens zu tun gedenkt«, fasst es Piketty zusammen.
Und was bedeutet nun das umständliche Wort Dekommodifizierung? Eigentlich nur, dass mehr und mehr Einrichtungen dem Markt und dem Zur-Ware-Werden (»Kommodifizierung«) entzogen werden müssen. Das rührt auch an die Wurzel der Ungleichheit, wie Piketty treffend sagt: »Wenn ich mit meinem Stundeneinkommen Ihr ganzes Arbeitsjahr kaufen kann, dann zieht in die menschlichen Beziehungen eine Art sozialer Distanz ein, die zu sehr ernsten Bedenken und Fragen Anlass gibt.« Macht sich ein politischer Neuaufbruch von links diese sehr ernsten Bedenken und Fragen über die soziale Herrschaft der toten über die lebendige Arbeit zu eigen, so kann man mit diesem klugen Buch sagen: Es muss an der Sozialdemokratie ja nicht fast alles schlecht bleiben.
Thomas Piketty und Michael Sandel: Die Kämpfe der Zukunft. Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 2025, 158 Seiten, 20 Euro
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