Come alive!
Von Alexander Kasbohm
Pulp waren eigentlich immer ein Anachronismus. Sie sind es jetzt mit »More«, ihrem ersten Album seit 24 Jahren, sie waren es 1994, als sie mit ihrem dramatischen, überlebensgroßen Pop in die Charts kamen. Damals war die Hochphase des Britpop, die Musiker waren »Lads«, Jungs in Jeans, meist eher rockig als poppig, beeinflusst von den Beatles oder den Kinks. Sänger Jarvis Cocker trug Anzug, croonte wie Bryan Ferry und war die dandyesque Antithese zur scheinbaren Authentizität der Liams und Damons. Grund genug, Pulp besser zu finden als Blur und besser als Oasis sowieso.
Hinzu kam, dass Pulp genau wussten, was Pop ist und warum Pop toll ist und Rock oft so doof. Ihr in Stil und Sound stark von Roxy Music inspirierter Sound war Mitte der 1990er wie ein Flashback aus dem Jahr 1983.
1983 ist lustigerweise auch genau das Jahr, in dem das erste Album von Pulp erschien. Aber da waren sie noch weit entfernt von der Band, die sie einmal werden sollten. Ihr Potential deuteten sie auf ihren ersten drei Platten bestenfalls zaghaft an. Mit »His ’n’ Hers« und den Singles »Lipgloss« und »Babies« waren sie 1994 plötzlich da. In ihrer cinematischen Größe, mit Euphorie, Bombast und Überdrehtheit. Man spürte, wie sie sich nach etwas Großem streckten, das sich knapp außer Reichweite befand. Diese angestrebte Perfektion erreichten sie dann mit dem nächsten Album »Different Class« unter der Regie des Roxy-Music-Produzenten Chris Thomas. Danach folgte noch das schwere, übersättigte »This is Hardcore« und, gewissermaßen als Coda, »We Love Life«, für das sie erstaunlicherweise die zurückgezogen lebende Legende Scott Walker als Produzenten gewinnen konnten.
Damit war die Geschichte der Band zu Ende erzählt, perfekter Bogen, ohne ein schlechtes Album. Auf ein neues gewartet hat vermutlich niemand. Cocker machte ein paar ganz anständige Soloplatten, und das reichte eigentlich auch. Aber manchmal kommen verschiedene Dinge zusammen und ändern die Ausgangssituation. Eine Konspiration der Umstände. Auf jeden Fall erwachte in Cocker, Keyboarderin Candida Doyle, Gitarristen Mark Webber und Schlagzeuger Nick Banks nach dem Tod des Bassisten Steve Mackey 2023 das Gefühl, dass die Zeit für ein neues Album reif sei. Und irgendwie haben sie recht, irgendwie passt Pulps Fin-de-siècle-Ästhetik genau in diese Zeit schwindelerregender technischer Fortschritte bei gleichzeitigem rasanten Verfall zivilisatorischer Errungenschaften.
»More« ist erfüllt von einer Erwachsenheit, die zugleich abgeklärter ist und »hungriger« als die letzten Alben der Band. Ab einem gewissen Alter bekommen die Dinge eine neue Dringlichkeit, weil die eigene Endlichkeit plötzlich ganz konkret spürbar wird. Wenn man 30 ist, kann man vieles noch aufschieben. Mit 60 ist das keine Option mehr. Wahrscheinlich war es auch mit 30 keine gute Idee, aber das merkt man erst später.
Und so klingen Pulp auf »More« so lebendig wie seit »Different Class« nicht mehr. Das Gefühl für den großen Pop hat die Band nicht verlassen, die Songs sind fast durchgehend stark, in 24 Jahren sammeln sich einige gute Ideen an, die nur noch auf den kleinen Funken warten, um von einer guten Idee zu einem sehr guten Song zu werden. Pulp sind wieder da, in all ihrer Exaltiertheit, all ihrem Exzess und auch mit der alten Euphorie, vor allem in »Spike Island« (»Spike Island, come alive!«) und der noch besseren zweiten Single »Got to Have Love«. Und mit den großen Gefühlen und Dramen (»Slow Jam«, »The Hymn of the North«). »More« ist zugleich Anfang und Ende und handelt von Anfängen und Enden und passt auf geradezu wundersame Weise ins »Jetzt«.
Pulp: »More« (Rough Trade)
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