Gegründet 1947 Montag, 2. Juni 2025, Nr. 125
Die junge Welt wird von 3011 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 31.05.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
ABC-Waffe

Sankt Gall

Von Martin Bartholmy
imago533917369(1).jpg
Washington, D. C., an einem Novembermorgen

Rot. Rot. Rot. Und kein Grün. Außer für Autos.

Schnorrigel sieht auf die Straße. Er sieht zur Seite, sieht den Knopf und drückt. Der Knopf sagt: »Wait«.

Er drückt in rascher Folge einmal – zweimal, dreimal, viermal. Der Knopf sagt: »Wa-W-W-Wait«.

Wieder geht die Hand zum Knopf, aber nun piept es und ist grün, beziehungsweise weiß: Sieben, sechs, fünf, vier, drei und zwei – knapp vor Ende des Countdowns erreicht er die andere Seite der Straße und betritt das Lokal.

Viel los ist nicht. Er setzt sich an die Theke, sieht auf die Tafel mit den »Specials«: Kolsch, Hefeweissen, Gose, IPA. Er schüttelt den Kopf. Er bestellt ein Lager, Dortmund style.

Sie sind Engländer? sagt eine Stimme zur Linken. Er hebt den Kopf. Ein sehr dünner Mann, Mitte 40, Mitte 50? – schwer zu sagen: ergrauter Schnauzbart, aber verblüffend schwarzer Pilzkopf. Er wedelt die Hand – an Fingern und Gelenk glitzert es – wedelt die ausgestreckte Hand in Schnorrigels Richtung und sagt: Aus England sind Sie, richtig? Aus Britannien.

Schnorrigel sieht an sich hinab, sieht auf der Brust den Lorbeerkranz. Er fächelt mit der Hand. Er sagt: Nein, nein. Deutscher. Aus Braunschweig (er sagt »Brunswick«).

Bruunswieg, sagt der andere, na dasja man koumisch. Und er streckt die Hand aus, ergreift Schnorrigels Hand, schüttelt, drückt sie fest und sagt: Claus – Claus Claustinsen, Hamburch. Aber nu schon eine ganze Weile hier.

Schnorrigel erwidert den festen Druck und sagt: Angenehm. Schnorrigel, Dr. Paul Schnorrigel.

Chirurg? Herzspezialist? Lassen sie mich raten …

Nun ist es an Schnorrigel mit der Hand zu wedeln, wobei ihm die teuer aussehende Uhr aus der Manschette schlüpft. Er schiebt sie zurück, sagt: Nein, nein, zuviel der Ehre. Ein einfacher Doktor der Geometrie sei er, genauer, der Trigonometrie. – Trinity College. Und wie Claustinsen den Mund aufmacht, ihn zu unterbrechen, schiebt er nach: Nein, nein, nicht das hiesige. Das bekanntere – in Dublin (er sagt »Dobblin«).

Wie – Sie Ire?

Also erzählt er: Die Vorfahren aus Irland, alter Adel, Häuptlinge, Kriegshelden, Verlierer – das übliche irische Schicksal, und dann als gute Katholiken geflohen ins Münsterland. Dort im Dienste des Fürstbischofs – und hastunich gesehen wurde der runde O’Snorriggle ein platter Schnorrigel, wobei sie immer noch beide Namen pflegten – alte Tradition ist Pflegefall, ha! – , und in seinem Pass sei neben dem Schnorrigel, Paul, Dr. trig. auch ein Paulus O’Snorrigle, D. trig. verzeichnet.

Fantastisch, ruft Claustinsen. Er zeigt dem Zapfer zwei Finger, weist auf sein Gegenüber, auf sich, sagt: »the same«, und nahtlos: Trigonometrie, das habe doch, soweit er es als Laie, als blutiger Laie verstehe, mit Gestalten, mit Formen im Raum zu tun … und … und der Deutsche an sich, der Ire an sich lebe ja jeweils in Kulturkreisen, welche sich zueinander konzentrisch und kommunizierend verhielten – gewissermaßen – sei es, was das Keltische, Kultische angehe, die Urfehde mit dem perfiden Albion oder auch die Braukunst. Gewisse Kreise aber, zumal konzentrische, die sich verhakten und sodann synchron bewegten, seien was?

»?«

Ein Maschinchen! Oder auch eine Riesenmaschine. Alles eine Frage der, Dings, – der Skalierung … aber was erzähle ich Ihnen: schließlich sind Sie der Mann vom Fach. Weshalb er ihm auch einen Vorschlag unterbreiten …

Claustinsen verstummt, fasst sich an den Hals. Aus dem Nichts schüttelt ihn ein Husten. Er greift sein Glas, leert es auf einen Zug. Dann lehnt er wieder, als sei nichts gewesen, am Tresen.

Also, sagt er, was ich meine, auf dem hiesigen Fluss, das sei Schnorrigel sicher aufgefallen, auf dem Fluss herrsche was? – Große Leere. Früher seien dort Raddampfer auf- und abgefahren, rudelweise, und … aber er wolle ihn nicht langweilen, deshalb ein Witz: Was sei ein Raddampfer mit Rad ab? – ? – Ein Dampfer, ha! – Aber das Dampfen sei heutzutage schwer verpönt, und deshalb müsse man einen anderen, einen innovativen Ansatz finden – à la Dampf ab …

Schnorrigel sieht sich um, greift sich an die Brust. Zu Claustinsen sagt er, sorry, aber er müsse mal kurz vor die Tür, eine schmöken.

Was Claustinsen keine Spur verdrießt, denn, sagt er, das treffe sich gut, müsse er doch seinerseits auf einen Sprung Richtung Strullstube, und da könne er ihn gleich zur Terrasse weisen, dort sei das Rauchen nämlich total gestattet, und außerdem werde man, anders als vor der Tür, nicht angeschnorrt – ein nicht zu verachtender Vorteil, in dieser Stadt voller Nassauer, aber wem sage ich das.

Er zeigt ihm die Tür, drückt ihm eine Broschüre in die Hand und sagt: Machen Sie sich selbst ein Bild von meinen dampflosen Dampfern, weil, ich sage immer, zu seinem Glück soll man keinen zwingen: Zwang ist Bumerang.

Schnorrigel mustert, was der eilige Fremde ihm zugesteckt: Das bunte Bild eines fliegenden Fisches, der, aufrecht auf der Schwanzflosse stehend, einen Segway fährt. Darunter: Das Rad neu erfinden? Nein! Wir bauen das Schiff 4.0 – den rauchlosen Rad»dampfer«. Per Rad unterwegs auf Wasser und Land! Ihre Investition in die Zukunft der Mobilität! Rendite von mind. 8,5 Prozent garantiert.

Schnorrigel zündet sich eine Zigarette an, schaut, sieht, ihm fehlt der Aschenbecher. Auch die anderen Tische sind aschenbecherlos, nur zu seiner Rechten, vor dem einzigen anderen Gast hier draußen, stehen gestapelt gleich zwei. Er beugt sich vor und fragt: Darf ich? Und sieht, unter der breiten Krempe des Cowboyhuts hat der andere eine dieser Elektrozigaretten im Gesicht. Der Herr nickt, zeigt auf sein Rauchgerät, steht auf, reicht Schnorrigel die beiden Aschenbecher und lüpft zum Gruß ganz leicht den Hut.

Schnorrigel nickt, ascht und bedankt sich, worauf der andere sich erkundigt, ob er Deutscher sei – und das auf deutsch, wenn auch mit deutlichem Akzent.

Einige Rauchwölkchen und ein Bierchen später ist man bereits per du, beziehungsweise, eigentlich war man’s von Anfang an; der Amerikaner hat es nicht so mit dem Siezen. Der Hutträger heißt Zimmermann, und deutsch spricht er, da seine Familie von dort stamme: Die Großeltern ein Kaufhaus in Chemnitz – dann wegarisiert, und ihn als den Enkel habe man entschädigt, aber erst, nachdem die Stadt zweimal den Namen gewechselt hatte. Seither, sagt Zimmermann, lebe er sorglos und sei, wie sagt man das? »Bicoastal«.

Bisexuell?

Nein, nein. Das sei … und er erklärt’s.

Schnorrigel sagt: Achso. – Ja. Das wäre wie wenn einer ein Haus hat auf Sylt und ein Haus hat auf Hiddensee. Aber ein Wort – ein Wort dafür gibt’s nicht. Außer vielleicht man sage: reich.

»Rich!« Das gefällt dem Zimmermann. Aber, sagt er, und tippt auf die Fischbroschüre, die vor Schnorrigel liegt, mit so etwas, mit dergleichen wird man nicht reich. Mit Hardware, erklärt er, habe man früher viel Geld verdient, Eisenbahnbarone und Autofürsten, aber heute … wo gebe es heute noch einen »Hardware Store«? Oder, wie es der zeitweilige Patron von Chemnitz formuliert habe: »All that is solid melts into air«, beziehungsweise – er tippt in sein Handy, liest ab: Alles Ständische und Stehende verdampft … nun ja, die Übersetzung sei nicht so catchy.

Da! ruft Schnorrigel und zeigt mit dem Finger: eine Sternschnuppe. Schnell!

Zimmermann summt. Zimmermann sagt: Die Perseiden sind es nicht, und wenn es nicht die Perseiden seien, dann werden es die Raucher sein, dort oben, er kippt den Kopf zurück, dort oben auf der Dachterrasse. Schnorrigel kippt gleichfalls den Kopf – und, richtig, weit oben und kaum zu sehen, stehen ein paar Leuchtpünktchen.

Zimmermann summt. Schnorrigel kennt die Melodie, kommt aber nicht drauf, zieht ein fragendes Gesicht, und Zimmermann rezitiert:

Wünsch dir was von einer Schnuppe,

wer du bist, das ist ganz schnuppe,

alles, was dein Herz begehrt, wird wahr.

Es piept. Zimmermann schaut aufs Display, nickt, dann hält er’s Schnorrigel hin, und der liest: Für die Wiedergabe eines Auszugs von »When You Wish Upon a Star« fallen Nutzungsgebühren an von 5,3 Cent, zu zahlen an die Walt Disney Corporation.

Zimmermann drückt den grünen Knopf. Sagt: Bezahlt. Sagt: Nun verstehe er vielleicht? Er sagt: Nicht umsonst heißt das »Royalties«– wie sagt man?

Tantiemen.

Genau: »Royalties« – Adel lebt von alten Rechten. Heute von Urheberrechten, aber von denen lebt es sich besonders gut – ich muss es wissen … und ich sage dir: Ich weiß es.

Schnorrigel will etwas fragen, aber da schnuppt schon wieder ein Sternchen, nur dieses Mal ganz knapp vor seiner Nase. Ein Glühwürmchen, sagt Zimmermann, es sei wieder jene Zeit des Jahres, und Gleich und Gleich geselle sich gern, nur manchmal werde Anderes für Gleiches gehalten, in diesem Fall die Glut an deiner Zigarette, und dies, ohne dass man sagen könne, wer dabei der Getäuschte, wer der Täuschende sei, Glühwürmchen oder Glut.

Licht flackert. Hinter der Scheibe, im Lokal schwingt eine Deckenlampe, Gepolter, Geschrei, und wie sie beide synchron ihre Stühle drehen, fliegt die Tür auf und fliegt ein Bündel heraus, kugelt über die Terrasse, wirft einen Tisch um, drei Stühle, kommt zum Stillstand, entigelt sich, richtet sich auf – das ist doch der … Dings, denkt Schnorrigel.

Der Mann steht auf, kugelt mit den Schultern, reckt sich, fasst sich an den Kiefer, klopft sich ab, bemerkt sie, verbeugt sich und sagt: Angenehm, angenehm, Claustinsen – Claus Claustinsen. Sie erlauben?

Er setzt sich zu ihnen, mustert sie, fasst in seine Jacke, zieht ein Kästchen hervor, legt es behutsam auf den Tisch, mustert sie noch einmal, nickt und sagt: Ich sehe, die beiden Herren rauchen. Drauf wischt er mit der Rechten einen nichtvorhandenen Qualm zur Seite und sagt: Keine Sorge. Ich bin ein Meister der Toleranz. Ich habe nichts auszusetzen. Aber haben die Herren … und er öffnet das Kästchen … haben die Herren schon einmal Folgendes bedacht? – Er zieht ein helles Röllchen aus dem Kasten. Das Original, sagt er, zwei Komponenten: Tabak und Papier. – Schlicht. Und entsprechend bald habe man’s verbessert. Er zieht ein zweites Röhrchen hervor. So sei es bekömmlicher und gesünder – voilà, die bekannte Filterzigarette. Dies aber sei nicht das Ende der Fahnenstange, nein, nein, und exklusiv präsentiere er ihnen das neueste, das gesündeste Modell. Einige exklusive Vertreterverträge seien noch zu haben … Es handele sich – und er zieht eine drittes Röhrchen – es handele sich, ta-da, um den tabaklosen Vollfilter.

Claustinsen steht auf, steckt sich das Röhrchen in den Mund, zückt eine Streichholzschachtel, macht beidarmig mit Hölzchen und Schachtel eine Kreisbewegung, wobei es ihm irgendwie gelingt, erst das Hölzchen und dann seine Erfindung in Brand zu setzen, und es gelingt ihm so gut, sein Kopf wird sogleich von dunklem Qualm verschluckt.

Die Tür knallt auf, ein Schwall Wasser fliegt Claustinsen ins Gesicht, gefolgt von einer spanischen Tirade, die sich aus dem sehr roten Mund einer stämmigen Frau ergießt. Sie packt Claustinsen an der Schulter, bellt ihn noch einmal an, dreht ihm den Arm auf den Rücken und schiebt ihn ins Lokal – und fort.

Zimmermann und Schnorrigel genehmigen sich noch ein Bier, schweigen, und in der stillen Nacht folgen ihre Augen den fallweisen Sternschnuppen und Wurmschnuppen. Dann kommt eine Kellnerin und beginnt aufzustuhlen. Wie sie das Lokal verlassen, huschen von neben der Tür zwei Gestalten davon. Zimmermann leuchtet mit seinem Handy: Neben der Tür ist ein großes grünspaniges Schild, eine Ecke verbogen, die Patina zerkratzt. – Buntmetalldiebe, sagt Zimmermann. Er zeigt auf die Inschrift. Schnorrigel liest: Brown, Thomson & Company. New York – Manchester – Paris – Chemnitz – St. Gall.

Das Kaufhausgeld, sagt Zimmermann, habe er reinvestiert. Die Banken jedenfalls bekämen es nicht – alles Betrüger. Und da der Einzelhandel nichts mehr abwerfe, die Produktion noch weniger, habe er Rechte gekauft, zwar nicht eben am Katalog der Beatles – da seien die Investitionen spekulativ sehr hoch, die Refinanzierung entsprechend mau – , sondern vielmehr Rechte im sogenannten »Non-Star Sector« … beispielsweise am Sound von Sprechern in Radio und Fernsehen, Rechte an all diese Offstimmen, zu denen man nie ein Gesicht sehe, und dazu gehörten auch jene Stimmen, die wir aus Jingles kennen, von Hörbüchern und Bekanntmachungen – Stimmen, denen man traut, weil sie so heimelig sind wie ein Winterabend am offenen Kamin … und diese Wirkung, sagt Zimmermann, stelle sich nur oder eben doch besonders dann ein, wenn die Stimme, wenn der Sound für sich stehe, für sich allein stehe – ganz ohne Bild und Gesicht, denn nur dann könne ein jeder nach seiner Fasson zum schönen Klang sich vorstellen, was jeweils gefällt.

… und, sagt Schnorrigel, du kaufst die Rechte an solchen Aufnahmen?

Nicht an den Aufnahmen. Er kaufe die Rechte an den Stimmen – und das über den Tod hinaus. Hat man nur genug abgespeichert, lasse sich eine jede Stimme beliebig regenerieren und wiederverwenden und …

Sie erreichen eine Kreuzung und, als hätte die Gabelung ihnen die Stimmen verschlagen, halten sie inne. Schnorrigel zeigt nach links. Zimmermann nickt; sein Finger zeigt in eine andere Richtung. Er sagt: Dann trennen sich hier unsere Wege. Er zeigt geradeaus. Hat mich gefreut, sagt er: Bob. – Paul. – Zimmermann drückt den Ampelknopf. Er drückt ihn einmal – zweimal, dreimal, viermal. Der Knopf sagt: »Wa-W-W-Wait«.

Auch diese Stimme, sagt Zimmermann, auch diese, gehört mir. Nichts Besonderes, doch nicht zu verachten: Bei jedem Knopfdruck klingelt’s in der Kasse. – Die Ampel wird grün, und er geht.

An der nächsten Kreuzung tritt Schnorrigel an den Bordstein. Er dreht die Füße, so dass die Spitzen seiner schwarzen Schuhe sich ein-, zwei-, dreimal berühren. Eine dunkle Limousine steht vor ihm. Lautlos öffnet sich der Schlag, und Schnorrigel verschwindet im Wagen. Ebenso lautlos schließt sich die Tür, und hinter den getönten Scheiben ist er jetzt schon gar nicht mehr zu sehen.

Martin Bartholmy ist freier Schriftsteller und lebt in Washington, D. C. 2023 erschien von ihm der Band »Gier und das Kaspische Meer. Erzählungen« (Hinterland House Press). Zuletzt an dieser Stelle erschien von ihm in der Ausgabe vom 10./11.5. »Die Geschichte stottert«, eine Geschichte der Mekons

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

                                                                   junge Welt stärken: 1.000 Abos jetzt!