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Aus: Ausgabe vom 31.05.2025, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
Journalismus gegen die Mächtigen

»Ich konnte endlich wieder meine Stimme finden«

Über das Schreiben als Auslandskorrespondent, den Verlust von Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit sowie neue Freiheiten durch alternative Medien. Ein Gespräch mit Patrick Lawrence
Interview: Dieter Reinisch, Wien
Vollgestopft mit US-Ideologie: Frisch gedruckte Ausgaben der New York Times (New York City, 8.5.2025)
Patrick Lawrence spricht auf Einladung des Österreichischen Journalisten Clubs in Wien (6.5.2025)

Sie blicken sehr kritisch auf die Medien in den USA und darüber hinaus. In welchem Zustand befindet sich die veröffentlichte Meinung diesseits und jenseits des Atlantiks?

In den USA und in Europa sind die etablierten Medien in einer historischen Krise, die aufgrund ihrer fehlenden Integrität und Glaubwürdigkeit ausgelöst wurde. Auf die Alternativmedien kommt daher eine immer wichtigere Aufgabe zu. Meine Karriere hatte einst in einem ähnlichen Umfeld begonnen. Es war in der Mitte des Kalten Kriegs, in den letzten Jahren des Vietnamkriegs.

Wie war das damals?

Als junger Journalismuslehrling hatte ich mehrere Jobs: Ich arbeitete bei einem etablierten Medium und hatte einen Zweitjob bei einem unabhängigen. Das war nicht vergleichbar mit den heutigen Alternativmedien, weil es noch keine Digitalisierung gab, auf die sich viele Alternativmedien heute stützen. Diese persönliche Erfahrung hat mich auf die heutige Situation vorbereitet.

Sie haben Ihr Studium 1971 abschließen können und kehrten in den Big Apple zurück.

Ich bin ja in New York aufgewachsen. Bei Daily News habe ich sofort eine Stelle erhalten. Das war eine Boulevardzeitung. Ich habe dort als »copy boy« gearbeitet, wie es genannt wurde. Ich war ein niederer Angestellter. Aber ich habe die Technik des Zeitungsmachens gelernt. Ich hielt meine Augen und Ohren offen, und es haben sich ein oder zwei Mentoren meiner angenommen. Durch sie habe ich das Gewerbe gelernt, nicht durch Journalismuslehrgänge. Wir hatten damals keinen Respekt vor den Absolventen dort. Aber damit will ich nicht sagen, dass ich heute mehr Respekt vor ihnen habe.

Von der Pike auf gelernt also …

Ich bin in die tiefste Stelle des Beckens gesprungen und habe dort schwimmen gelernt. So hat alles für mich begonnen. Ich wurde dann einen Stock tiefer der stellvertretende Schriftleiter. Dort wurden die Seiten gesetzt. Das waren die letzten Jahre der Ära des Bleidrucks. In einer sehr präzisen und disziplinierten Art und Weise habe ich so das Handwerk beigebracht bekommen. Dabei habe ich aber nicht nur Methoden gelernt, sondern auch die Realität – in meinem Buch nenne ich es die »Entfremdung«.

Was bedeutet das für Sie?

Ich wünschte, diese Erfahrung nicht gemacht zu haben, aber die Mainstreammedien verlangen diese Entfremdung von ihren Reportern: zu lernen, in der Sprache ihrer Zeitung zu denken und den Überblick zu verlieren. Als ich diese Erfahrung durchgemacht hatte, beschloss ich, bei unabhängigen Medien zu arbeiten.

Wie haben Sie diese Entfremdung am eigenen Leib erlebt?

Es waren die letzten Jahre des Vietnamkriegs, und die Antikriegsbewegung war sehr stark. Es gab sehr große Unzufriedenheit mit den etablierten Medien. Sie waren sehr ideologisch getrieben. Wenn man für die großen Zeitungen gearbeitet hat, hat man das alles als selbstverständlich hingenommen. Aber ich hatte das Glück, jemanden kennenzulernen, der mich mit dem National Guardian bekannt gemacht hat. Der war vielleicht das größte Experiment in der Geschichte des Zeitungsjournalismus in den USA im 20. Jahrhundert.

Können Sie den Versuchsaufbau beschreiben?

Er wurde 1948 von zwei Journalisten gegründet, die sich kennenlernten, als sie beide im besetzten Deutschland stationiert waren. Sie wollten die Zeitungslandschaft demokratisieren. Der National Guardian war wirklich eine wundervolle Zeitschrift mit einer sehr guten Verbreitung in der Nachkriegszeit. Er spiegelte die gesellschaftliche Meinung sehr gut wider. Als ich dann begann mitzuarbeiten, hatte der lange Weg der US-Gesellschaft nach rechts bereits begonnen. Neben meiner Arbeit bei Daily News habe ich damals für den National Guardian und andere unabhängige Publikationen gearbeitet. Ich habe an der Universität ein wenig afrikanische Geschichte gelehrt und war aktiv in der Antiapartheidbewegung. Auch in diesen Zusammenhängen habe ich bei unabhängigen Medien mitgearbeitet.

So wie Sie es beschreiben, klingt es, als wären Ihre Zweitjobs bei unabhängigen Medien Ihr politischer Aktivismus gewesen.

Ich wäre sehr vorsichtig mit dem Wort Aktivismus.

Können oder sollen Journalisten aus Ihrer Sicht also keine Aktivisten sein?

Es gibt Journalismus, und es gibt Aktivismus, aber man kann nicht beides gleichzeitig machen. Wenn man beides macht, kommt nur ein Unsinn heraus. Man verliert seine Glaubwürdigkeit und sein Ansehen. Jeder Journalismus hat politische Positionen, das ist gut und sollte man nicht verheimlichen, denn es bedeutet, dass man ein gewisses Verständnis von gesellschaftlichen Verhältnissen hat. Die Kunst des Handwerks ist es, genau diese politischen Ansichten und Überzeugungen so zu regeln, dass sie nicht die Berichterstattung entstellen. Linker Journalismus hat die beiden Sachen aber vermischt. Auch beim National Guardian ist das passiert. Die Journalisten waren Aktivisten. Für mich sind auch alle Journalisten von Mainstreammedien, die die Politik der Regierung unterstützen, rechte Aktivisten.

In welcher Rolle waren Sie beim National Guardian schließlich tätig?

Ich war damals Redakteur des Auslandsressorts. Das Niveau war leider gering. Die Journalisten dort beherrschten ihr Handwerk nicht. Wenn du keine hohen Standards hast, dann ist deine Publikation voller Fehler, und du verlierst mit der Zeit an Ansehen. Die Publikation konnte damals auch nicht mehr ein moderates Honorar zahlen. Ich war in meinen 20ern, und daher beschloss ich, weiter in den etablierten Medien zu arbeiten, um das Redigieren und das Schreiben weiter zu lernen. Ich hatte gehofft, dass die unabhängigen Medien in den kommenden Jahren stark genug werden würden, damit man davon leben könnte.

Wo haben Sie nach dem Guardian gearbeitet?

Ich habe zunächst für ein Wirtschaftsmagazin in New York gearbeitet. Ich habe mich gar nicht für Wirtschaft interessiert, aber es war eine gute Zeit, weil es methodisch und handwerklich ein sehr diszipliniertes Medium war. Ich wechselte dann für ein Jahr nach London zum Economist, und von dort ging ich zur New York Times. Das war ein sehr unangenehmer Ort zum Arbeiten, aber es war für mich die Zeit gekommen, mit dem Schreiben zu beginnen. So fing ich an, mich für die Probleme des globalen Südens zu interessieren. Die Times war damals wiederum nicht besonders interessiert an diesem Teil der Welt. Ich entschloss mich daher, nach Asien zu gehen. Und so wurde ich zu einem Korrespondenten. Nach ein paar Jahren wurde ich schließlich der Asienkorrespondent der International Herald Tribune und blieb dieser Zeitung in der einen oder anderen Weise für 21 Jahre erhalten.

Viele heutige Journalisten können sich das wahrscheinlich nicht vorstellen, als Korrespondent etwa ohne Internet zu arbeiten. Wie war die Arbeit damals?

Heute sind nur mehr sehr wenige Korrespondenten übrig, und nur sehr wenige haben wohl das Leben, das ich damals hatte: gutes Gehalt, zusätzliches Geld für die Wohnung, Sekretärin, alle Reisen bezahlt. Unsere Texte haben wir mit Telex an die Redaktion geschickt. Es war anders, wahrscheinlich sogar mühsamer. Wenn du etwas recherchieren wolltest, musstest du 25 Zeitungen durchgehen. Es war nichts digital. Aber es war auch ein nettes, manchmal magisches Leben.

Viele Korrespondenten wurden nach drei oder vier Jahren ausgetauscht und an einen anderen Ort versetzt. Ich konnte mich dem zum Glück entziehen und in Südostasien 29 Jahre lang bleiben. Ich lernte die Region sehr gut kennen. Eta­blierte Medien wollen viel Oberflächlichkeit, aber ich konnte über diese Grenze hinweggehen und die Region tiefer kennenlernen. Ich konnte tiefergehende Geschichten schreiben.

Ich war eine Zeitlang in Hongkong und ging dann nach Tokio. Neben der International Herald Tribune schrieb ich von dort auch für den New Yorker, als er noch eine sehr andere Zeitung war. Ich schrieb die »Briefe aus Tokio«. Sie gaben dir damals jeden Platz, den du brauchtest: 7.000, 8.000 oder 9.000 Wörter. Dadurch konnte man in wirklicher Tiefe über die Gesellschaft schreiben, in der man war.

Wie war die Arbeit bei der International Herald Tribune?

Es war eine außergewöhnliche Zeitung. Sie war amerikanisch, aber hatte ihren Sitz in Paris. Das machte einen großen Unterschied zu anderen US-Zeitungen. Dadurch hatte sie eine größere Distanz zum US-Imperialismus. Die Korrespondenten anderer Zeitungen mussten aus strikt US-amerikanischer Perspektive berichten. Bei der Tribune war das nicht der Fall. Du hattest als Korrespondent die Möglichkeit, aus einer anderen Perspektive zu schreiben, und das gefiel mir.

Das änderte nichts daran, dass es eine US-amerikanische Zeitung war …

Aber sie war eine mit globaler Perspektive. Die Meinungsspalten gehörten meiner Meinung nach damals zu den besten am Markt. Irgendwann hat die Times dann die International Herald Tribune übernommen, und alles hat sich geändert. Sie wurde zu einem bloßen Ableger der Times gemacht, vollgestopft mit US-Ideologie. Die Zeitung, für die ich damals gearbeitet habe, existiert nicht mehr.

Sie sagen, dass es damals ein anderer New Yorker war. Was meinen Sie damit?

Der alte New Yorker hatte viele Korrespondenten: in Asien, in Europa, im Nahen Osten. Diese Menschen, die berichteten, lebten dort und hatten alle Ressourcen sowie den Platz, den man brauchte. Als Korrespondent für den New Yorker schrieb man nicht oft, denn man arbeitete aus der Binnenperspektive der jeweiligen Region oder des jeweiligen Landes. Es ging gerade nicht darum, aus US-Perspektive von außen über etwas zu schreiben, was fernab passiert. In den Beiträgen im New Yorker ging es darum, die Gesellschaft zu verstehen, in der ein Korrespondent lebt.

Irgendwann war schließlich Schluss mit diesem Modell. Wie lange konnte sich das bei dem New Yorker halten?

Dieser Ansatz änderte sich drastisch, als die Herausgeber wechselten. Das war Mitte der 1990er Jahre. Sie gaben die Korrespondenten auf. Wenn sie nun einen Text über eine Region wollten, dann flogen sie einen Redakteur ein. Von da an ging es nicht mehr darum, die Gesellschaft zu verstehen, sondern nur noch darum, durch die US-gefärbte Brille aus fernen Gegenden zu berichten.

Sie sind in Ihrem Buch, wie gesagt, sehr kritisch gegenüber den Medien in den USA. Was Sie jetzt über die von Ihnen erlebte Vergangenheit schildern, wirkt dagegen eher wie Nostalgie für eine Art goldene Ära.

Ich würde den Begriff nicht verwenden. Es war aber anders. Es gab kleine Räume, in denen man ehrliche Arbeit leisten konnte. Entweder bei einer Zeitung oder Zeitungen als ganzes, wie die International Herald Tribune. Das hat sich dann alles 2001 schlagartig geändert.

Sie spielen auf die Anschläge vom 11. September auf das World Trade Center sowie das Pentagon an. Wieso hatte sich damit alles geändert?

Als die Türme in New York zusammenfielen, haben sich die Menschen das tagelang angeschaut. Es gab eine Obsession mit diesen Videos. Was sie sich tatsächlich damit ansahen, war das Ende der Illusion, dass die Vereinigten Staaten von Amerika immun gegenüber der Geschichte seien. Arnold Toynbee hat über Großbritannien geschrieben: »Für uns war Geschichte etwas Unangenehmes, das anderen Menschen passierte.« So fühlten sich auch die Amerikaner vor dem 11. September. Plötzlich geschah Geschichte auch bei uns.

Wie reagierte die Nation, sofern man das Wort bemühen will, darauf?

Das Land nahm zunächst eine defensive Haltung ein, die sich in Aggression umschlug – wie bei einem verwundeten Tier. Jeder Bürger musste von nun an die Sache unterstützen. »Die Sache« bedeutet: den Erhalt des Imperiums sicherzustellen. Und jeder musste dafür seinen Dienst leisten. Das führte auch zu einem tiefgreifenden Wandel der Medienlandschaft. Es gab die oben beschriebenen kleinen Räume nicht mehr. Die toleranten Redakteure verschwanden. Es war auch zu diesem Zeitpunkt, dass die Times die International Herald Tribune übernahm – ich glaube, das war kein Zufall. Ich habe die Zeitung 2007 verlassen. Zuvor habe ich noch die asiatische Ausgabe redigiert, und es kamen die ganzen neuen Redakteure aus den USA. Ich wurde schrittweise hinausgedrängt.

2007 ging alles nur noch um ideologische Loyalität. In den etablierten Medien gab es keinen Platz mehr für jemanden wie mich. Zunächst setzte ich mich einmal daran, ein Buch zu schreiben. Dann zog ich 2010 nach 29 Jahren in Asien zurück in die USA. Dort begann ich, für digitale Alternativmedien zu schreiben – erstmals in meinem Leben. Ich war mein gesamtes Berufsleben ein Mann der gedruckten Mainstreampresse. Ich hatte digitale Alternativmedien nie ernst genommen, weil ich mir dachte, es sei nichts wert, wenn man nicht um die Ecke gehen und die Zeitung dort kaufen könne. Anders als gedacht war es eine wundervolle Erfahrung, für unabhängige Medien schreiben zu können. Es war so etwas wie eine Rückkehr zu meinen Anfängen beim National Guardian. Ich konnte endlich wieder meine Stimme finden und in meiner Sprache schreiben.

Das ist auch deshalb sehr wichtig, weil die Erhebungen über das Vertrauen der Menschen in die Medien Schockierendes ergaben. Daten aus den USA zeigen, dass nur noch 16 Prozent der Bevölkerung glauben, was sie in der Zeitung lesen. Beim Fernsehen ist es noch weniger, da glauben nur noch elf Prozent der Bevölkerung, was sie in den Nachrichten sehen.

Können unabhängige Medien hier entgegenwirken?

Die Ressourcen sind leider inadäquat, das Geld fehlt. Dennoch liegt hier die Zukunft. Die unabhängigen Medien haben die Presse als eigenständigen Pol in klarer Distanz zur politischen und ökonomischen Macht wieder etablieren können. Das ist von ungemeiner Bedeutung. Es ist ein langsamer Prozess, aber er gibt uns sehr viel Verantwortung.

Patrick Lawrence, geboren 1950 in New Rochelle im US-Bundesstaat New York, begann 1971 bei der Boulevardzeitung Daily News in New York City zu arbeiten, damals eine der größten Tageszeitungen der USA. Ab Anfang der 1980er Jahre wechselte er als Korrespondent zunächst für kurze Zeit zum Economist, später schrieb er fast drei Jahrzehnte für die International Herald Tribune, die Far Eastern Economic Review und The New Yorker aus Asien. Heute arbeitet Patrick Lawrence für verschiedene unabhängige Medien in den USA und in Europa. Auf deutsch erschien zuletzt von ihm »Journalisten und ihre Schatten: Zwischen Medienkonzernen und unabhängiger Berichterstattung« im Wiener Promedia-Verlag

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