Träume vom »Kurswechsel«
Von Kristian Stemmler
Die beiläufige Mitteilung von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), dass die »Reichweitenbeschränkungen« für aus Deutschland an die Ukraine gelieferte Waffensysteme weggefallen sind und damit fortan auch Ziele in Russland beschossen werden können, hat einmal mehr den »Taurus, Taurus«-Chor auf den Plan gerufen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter erläuterte auf der Plattform X, der »Taurus« könne, »wenn das System in größerer Zahl geliefert wird«, »Entlastung« bringen. Auch Grünen-Fraktionsvize Agnieska Brugger war mit der Forderung zur Stelle, nun auch die von Kiew gewünschten Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen.
Zurückhaltender gab man sich beim Koalitionspartner SPD aus. Der ehemalige Fraktionschef Rolf Mützenich sagte am Dienstag im Deutschlandfunk, die Begrenzung der Reichweiten sei richtig gewesen. Statt diese Begrenzung aufzuheben, solle die Bundesregierung sich lieber an den diplomatischen Bemühungen für einen Frieden in der Ukraine beteiligen. Bereits am Montag hatte der Außenpolitiker Ralf Stegner kritisiert, er finde »solche öffentlichen Betrachtungen nicht hilfreich«. Alles, was den Krieg ausweite, sei falsch, sagte er dem RND. Wie Mützenich plädierte auch Stegner dafür, »die diplomatischen Bemühungen zu verstärken«. Es gebe »am Ende keine Alternative zu Gesprächen«.
Derweil entwickelt sich eine Art Deutungsstreit darüber, wie die Merz-Äußerungen zu bewerten sind. Von den Akteuren, die auf eine Verlängerung und Eskalation des Krieges in der Ukraine setzen, werden sie mit betonter Euphorie als »Kurswechsel« interpretiert und der angeblichen »Zurückhaltung« von Amtsvorgänger Olaf Scholz (SPD) gegenübergestellt. Dieser Auslegung war Vizekanzler Lars Klingbeil aber noch am Montag entgegengetreten. »Was die Reichweite angeht, will ich noch sagen, da gibt es keine neue Verabredung, die über das hinausgeht, was die bisherige Regierung gemacht hat«, sagte er in Berlin.
Kritik an Merz kam von der Partei Die Linke und dem BSW. Der Kovorsitzende der Fraktion Die Linke, Sören Pellmann, sagte, derlei werde »den Kriegsverlauf leider nicht ändern, sondern kann zu einer weiteren Eskalation führen«. BSW-Chefin Sahra Wagenknecht erklärte, dieser Schritt könne »in letzter Konsequenz den Krieg nach Deutschland holen«.
Zur Frage der Lieferung von »Taurus«-Marschflugkörpern an die Ukraine hatte Merz sich am Montag nicht geäußert – und auch nicht dazu, für welche gelieferten deutschen Waffensysteme eine Aufhebung der Reichweitenbeschränkung relevant sein könnte. In Betracht kommen eigentlich nur der Raketenwerfer »Mars II« (85 Kilometer Reichweite) und die Panzerhaubitze 2000 (35 Kilometer).
Die neue Regierung hatte jüngst die Absicht bekundet, die Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine »aus der Öffentlichkeit herauszunehmen«. Merz ergänzte seine Äußerungen am Dienstag am Rande seines Besuchs in Finnland. In Turku erklärte der Kanzler in dem erkennbaren Bemühen, die Aussagen vom Montag zu relativieren, er habe lediglich »etwas beschrieben, was schon seit Monaten geschieht«. Das Thema Reichweitenbegrenzung habe »vor einigen Monaten und einigen Jahren mal eine Rolle gespielt«. Die westlichen Länder hätten diese Auflagen längst zurückgenommen. Die Ukraine habe »das Recht, die Waffen, die sie geliefert bekommt, auch einzusetzen, auch jenseits der eigenen Landesgrenzen einzusetzen gegen militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet«.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Löcknitz (27. Mai 2025 um 19:50 Uhr)Wo ein Aufschrei gegen den Merzschen Wahnsinn geboten wäre, meint Sören Pellmann, es wäre mit einem »das wird den Kriegsverlauf nicht ändern« getan. Danke für diese klare friedenspolitische »Leistung« Sören Pellmann. Und danke, liebe PdL. Man weiß jetzt noch genauer, was man an euch hat, wenns brenzlig wird.
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Leserbrief von Stephan Pfannschmidt (28. Mai 2025 um 15:28 Uhr)Dem stimme ich zu. Frieden schaffen? Gern, wenn ein paar Sonntagsworte genügen. Die Linke ist inzwischen brav in den Kriegstreiber-Duldungs-Modus eingeschwungen, dem Tiger sind die Zähne gezogen. Sonst wäre sie vor den Bundestagswahlen medial auch nicht so lieb behandelt worden und hätte sicher nicht ein so überraschend hohes Ergebnis eingefahren. Konsequent dann die krasseste Fehlleistung: die Weigerung, gemeinsam mit dem Erzfeind AFD den Bundestag vorzeitig einzuberufen, um den ersten Merzschen Wahnsinn zu blockieren: mit der abgewählten parlamentarischen Mehrheit das gigantischste Aufrüstungsprojekt aller Zeiten per Verfassungsänderung durchzuprügeln (was für ein Irrsinn, was für eine Verhöhnung jeglicher demokratischer Prinzipien!). Das wäre nämlich möglich und parlamentarisch absolut geboten gewesen*. Stattdessen: Kontaktschuld-Angst sticht Menschenverstand und wahre Interessenvertretung. Eine PdL-Kanditatin aus München, die ich beim Ostermarsch darauf ansprach, wusste nicht einmal von dieser vertanen historischen Chance. Nun setzt sich, wie im Artikel zu lesen, der Wahnsinn fort, Merz darf mal nebenbei austesten, was mittlerweile schon sagbar ist und weiter mit dem Feuer des Dritten Weltkriegs spielen. *Urteil Bundesverfassungsgericht vom 13.03.2025: »…Eine solche Pflicht [der Konstituierung des neuen Bundestages den Vorzug zu geben, Anm. d. Verf.] bestünde allenfalls, wenn der neue Bundestag den Willen zum Zusammentritt gebildet und sich dafür auf einen Termin verständigt hätte. Daran fehlt es hier.« https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2025/bvg25-025.html
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