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Aus: Ausgabe vom 26.05.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Aleviten in der Türkei

Die Wahrheit bleibt im Dunkeln

Türkei: 30 Jahre nach einem Massaker an Aleviten im Istanbuler Stadtteil Gazi wurden jetzt die Ermittlungsakten wegen Verjährung geschlossen
Von Emre Şahin
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Einmarsch der türkischen Armee im alevitisch geprägten Istanbuler Arbeiterviertel Gazi am 15. März 1995

Ganze 30 Jahre hatte die türkische Justiz Zeit, ein Massaker an Aleviten im Istanbuler Stadtviertel Gazi aufzuarbeiten. Doch wo keine Aufarbeitung gewollt ist, da kann es auch keine geben. Mitte Mai ist die Akte zu den Vorfällen vom 12. März 1995 aufgrund von Verjährung stillschweigend geschlossen worden und weder die 22 Todesopfer noch ihre Angehörigen durften Gerechtigkeit erfahren. Die drei Jahrzehnte währende Vertuschung und Verschleppung haben sich ausgezahlt, die Türkei ist um ein weiteres ungesühntes Staatsverbrechen reicher. Dabei war Gazi bis zu den Vorfällen ein Viertel Istanbuls, das wohl selbst den meisten Bewohnern der Metro­pole kaum bekannt war.

Gazi war ein wachsender Slum am Rande der Stadt, ein Arbeiterviertel, in dem vor allem ausgewanderte Aleviten aus Dersim und Sivas Zuflucht fanden. Es gab zu dieser Zeit einen regelrechten kurdischen Exodus aus der Region Dersim (türkisch Tunceli), die türkische Regierung ließ unter dem Vorwand der Bekämpfung der Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans PKK zahlreiche Dörfer niederbrennen. Aber auch das anatolische Sivas war damals für die nichtmuslimische Minderheit nicht mehr sicher. Am 2. Juli 1993 verübten Islamisten dort ein Pogrom gegen eine Versammlung alevitischer Künstler und Intellektueller, 35 Menschen verbrannten im im Madımak-Hotel. Das Massaker wurde live im Fernsehen übertragen, Einsatzkräfte schauten stundenlang tatenlos zu. Keine zwei Jahre später wurden die Aleviten erneut zur Zielscheibe.

Schüsse aus dem Taxi

Der 12. März 1995 war ein Sonntag. Die Kaffeehäuser in Gazi waren voll, Fußballrekordmeister Galatasaray spielte gegen den Underdog aus Antep und war im Begriff zu verlieren. Aus dem Nichts wurde gegen 20.30 Uhr aus einem Taxi heraus auf drei Cafés sowie eine Patisserie auf der Hauptstraße İsmetpaşa mit automatischen Waffen das Feuer eröffnet. 25 Menschen wurden verletzt, Halil Kaya, ein 67jähriger alevitischer Geistlicher, starb noch vor Ort. Die Täter flüchteten mit dem Taxi. Einige Stunden später wurde das inzwischen in Brand gesetzte Fahrzeug zwar gefunden, allerdings ohne die mutmaßlichen Mörder. Der wohl entführte Taxifahrer lag mit durchtrennter Kehle im Kofferraum seines Wagens.

Währenddessen hatten sich in Gazi bereits etwa 2.000 Menschen vor dem alevitischen Gebetshaus versammelt und wollten zur Polizeiwache laufen. Sie protestierten und forderten Ermittlungen, das Misstrauen gegenüber dem Staat war groß. Berechtigterweise. Schon kurz darauf schoss ein Polizist in die aufgebrachte Menge und töte Mehmet Gündüz mit einem Kopfschuss. Sein Tod brachte die Menschen noch mehr auf, am nächsten Morgen machten sich erneut mehrere Tausend auf den Weg Richtung Polizeiwache, um die Herausgabe der beiden Leichname zu fordern. Doch erneut schoss die Polizei in die Menge. Die Proteste rissen nicht ab. Am 13. März starben weitere 15 Menschen, es gab Hunderte Verletzte.

Tags darauf wurde im Stadtbezirk eine Ausgangssperre verhängt. Zusätzlich zu den Polizeikräften schickte der Staat die Armee ins Viertel. Die Soldaten marschierten mit dem Slogan »Wir opfern unser Leben für unsere Heimat« in Gazi ein, als wären die kurdischen Aleviten keine Staatsbürger des Landes. Inzwischen hatten Einwohner Gazis ein Komitee gegründet, das vier Forderungen formulierte: Herausgabe der Leichname, Aufhebung der Ausgangssperre, Freilassung der Inhaftierten und Abzug von Soldaten und Polizei. Der Staat kam dem nicht nach, so dass die Proteste am 14. März trotz Ausgangssperre weiter anhielten. Mehr noch, sie weiteten sich auf weitere mehrheitlich von Aleviten bewohnte Stadtteile wie Maltepe Gülsuyu und das 1.-Mai-Viertel in Ümraniye auf der asiatischen Seite der Stadt aus. Auch dort wurden fünf Menschen ermordet. Die Lage beruhigte sich erst am 15. März, nachdem die Forderungen des Komitees akzeptiert wurden.

Prozessfarce

Nach den Vorfällen erstatteten die Angehörigen der Getöteten Anzeigen gegen Premierministerin Tansu Çiller, Innenminister Nahit Menteşe, Polizeichef Mehmet Ağar, Istanbuls Gouverneur Hayri Kozakçıoğlu und den Istanbuler Polizeichef Necdet Menzir. Das Gericht entschied jedoch, keine Strafverfolgung einzuleiten. Wegen der tödlichen Schüsse gab es Ermittlungsverfahren gegen mehr als 200 Polizisten. Aus »Sicherheitsgründen« wurde der Fall jedoch nicht in Istanbul verhandelt, sondern in die 1.000 Kilometer entfernte Schwarzmeerprovinz Trabzon verlegt, eine Hochburg türkischer Nationalisten. 31mal mussten die Familien hin- und herfahren und waren in Trabzon jedes Mal Angriffen und Schikanen ausgesetzt. Die Istanbuler Polizeibehörde hielt die Liste der diensthabenden Beamten lange geheim. Als sie eine Liste herausgab, waren nicht alle Namen und Seriennummern der verwendeten Waffen korrekt. Jahre später stellte sich heraus, dass die Namen der Polizisten, die tatsächlich in Gazi waren, nie übermittelt wurden. Weder der Tatortbericht noch das ballistische Gutachten enthielten Ergebnisse, die Funkaufnahmen wurden vernichtet. So war es nicht verwunderlich, dass die Staatsanwaltschaft 1998 entschied, 244 Polizisten nicht weiter strafrechtlich zu verfolgen.

Von den zwanzig noch weiter vor Gericht stehenden Polizisten wurden 18 freigesprochen. Nur Adem Albayrak wurde wegen der Tötung von vier Menschen zu sechs Jahren und acht Monaten Gefängnis und Mehmet Gündoğan wegen der Tötung von zwei Menschen zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Der Oberste Gerichtshof hob das Urteil jedoch mit der Begründung auf, dass es »keine eindeutigen Beweise hinsichtlich der gegen sie erhobenen Mordanklage« gebe. Die Strafen wurden zur Bewährung ausgesetzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte 2005 fest, dass von seiten der türkischen Justiz »keine wirksamen strafrechtlichen Ermittlungen durchgeführt« und das »Recht auf Leben« verletzt worden sei. Die Türkei musste Schadenersatz zahlen, die Hintergründe des Vorfalls blieben indes weiterhin im Dunkeln.

Dabei gab es Hinweise auf Verstrickungen des »tiefen Staates«. Während der gerichtlichen Anhörungen zum Gazi-Massaker ereignete sich am 3. November 1996 der sogenannte Susurluk-Skandal. In der Nähe der Kleinstadt Susurluk bei Balıkesir wurden aus dem Wrack eines verunglückten Autos die Leichen des Vizepolizeidirektors von Istanbul, Hüseyin Kocadağ, des international gesuchten Auftragsmörders, Drogenhändlers und »Grauen Wolfs« Abdullah Çatlı und dessen Geliebter geborgen. Der kurdische Großgrundbesitzer und Abgeordnete der konservativen Regierungspartei DYP, Sedat Bucak, der eine Privatarmee gegen die PKK-Guerilla aufgestellt hatte, überlebte schwerverletzt. Der Vorfall machte die Verstrickung von Geheimdienst, Polizei, Mafia und rechten Parteien offensichtlich.

Der Vorwurf, das Gazi-Massaker gehe auf die Machenschaften des »tiefen Staates« zurück, erhärtete sich, als der stellvertretende Direktor der geheimdienstlichen Abteilung der türkischen Polizei, Hanefi Avcı erklärte, ein Agent des Gendarmeriegeheimdienstes JİTEM, Mahmut Yıldırım, stecke hinter den Vorfällen. Yıldırım, auch bekannt unter seinem Decknamen »Yeşil«, verschleppte, folterte und mordete jahrelang für JİTEM in Kurdistan und gilt seit 1998 als untergetaucht. Laut Avcı hatte er in Gazi Chaos säen wollen, um Untersuchungen im Fall des 1995 verschleppten Geheimdienstoffiziers Tarık Ümit zu verhindern, der wohl ebenfalls der Verstrickung zwischen Staat und Mafia zum Opfer fiel.

Ungehörter Zeuge

Menekşe Poyraz, die bei dem Massaker ihre Tochter Zeynep verloren hatte, erklärte ebenfalls, Mahmut Yıldırım am besagten Tag in Gazi gesehen zu haben. Auch die Anwälte der Familien wiesen während der Verhandlungen beständig auf die Verbindungen zwischen den Überfällen auf die Kaffeehäuser in Gazi und dem »tiefen Staat« hin. Dutzende Anträge, Hanefi Avcı als Zeugen zu vernehmen, wurden vom Gericht jedoch abgelehnt. Remzi Kızmaz, einer der Anwälte, erklärte am 12. März 2020 gegenüber dem Nachrichtenportal Independent: »Wenn Hanefi Avcı in diesem Fall als Zeuge ausgesagt hätte, wären alle dunklen Aspekte des Gazi-Falls ans Licht gekommen. Wir haben diesbezüglich viele Anträge an das Gericht gestellt, die jedoch jedes Mal abgelehnt wurden. Die Blackbox dieses Falles ist der damalige stellvertretende Direktor der nachrichtendienstlichen Abteilung der Polizei.« Kizmaz zufolge fürchteten viele einflussreiche Personen die Wahrheit über das Massaker von Gazi, weil anschließend weitere ungeklärte Morde ans Licht kämen, was aus ihrer Sicht verhindert werden müsse. So wurde der Tod unschuldiger kurdischer Aleviten in Kauf genommen.

Hintergrund: Aleviten in der Türkei

Die Ereignisse von Gazi reihen sich ein in eine Kette von Massakern an der alevitischen Minderheit in der Türkei. Dersim 1937/38, Erzincan-Zini 1938, die Pogrome von Maras, Malatya und Alibaba in Sivas (allesamt 1978), Çorum 1980 und erneut Sivas 1993. Was das Massaker in Gazi von den anderen Massakern unterscheidet, ist, dass sich diese Angriffe in der Westtürkei ereigneten.

Wegen fehlender Sicherheit und aus Mangel an wirtschaftlichen Perspektiven sind viele Aleviten in die westlichen Großstädte Ankara, Izmir und natürlich Istanbul emigriert. Dort ließen sie sich in Vierteln wie Gazi, Gülsuyu, Küçükarmutlu, Okmeydanı, 1. Mai (Ümraniye) nieder, um nur einige zu nennen. Also verarmte Stadtteile einer stigmatisierten Bevölkerung. Da Aleviten keine Muslime sind, zudem mehrheitlich kurdisch, werden sie bis heute nicht selten als Menschen zweiter Klasse behandelt. Unter diesen Bedingungen fanden vor allem linke und revolutionäre Parteien bei ihnen Unterstützung, so dass Aleviten ein weiteres »Stigma« anhaftet, nämlich dass sie alle Kommunisten seien.

Als im Juni 2013 das Land auf die Proteste im Gezi-Park schaute, fanden auch in Vierteln wie Gazi Tag für Tag Proteste statt. Das jüngste Gezi-Park-Opfer, der 13jährige Berkin Elvan, der beim Brotkaufen tödlich von einer Tränengasgranate der Polizei getroffen wurde, stammte aus Okmeydanı. Auch bei den übrigen sechs während der landesweiten Proteste 2013 von der Polizei Getöteten handelte es sich um Aleviten und arabische Alawiten. Das zeigt, Ankara auf die Menschen aus diesen Vierteln blickt und mit ihnen umgeht.

Neben staatlicher Repression und Gentrifizierung sind diese Nachbarschaften zunehmend der organisierten Kriminalität ausgesetzt. Drogen und Prostitution sind in diesen politisierten Vierteln plötzlich allgegenwärtig. Glaubt man den Menschen vor Ort, ist das staatlich gewollt. Auch siedeln sich immer mehr religiöse Sekten dort an. Präsident Recep Tayyip Erdoğan äußerte sich in der Vergangenheit wiederholt abfällig über Aleviten. So bezeichnete er deren Gebetsstätten beispielsweise als »Vergnügungshäuser« und warf ihnen Inzest vor, da im Alevitentum alle in einem gemeinsamen Raum beten, statt wie im Islam nach Geschlechtern getrennt. Auch nahm seine Partei AKP Personen in ihre Reihen auf, die sich an den Massakern gegen Aleviten in Maraş 1978 und Sivas 1993 beteiligt oder die Schuldigen als Anwälte vor Gericht vertreten hatten. (es)

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