Gewaltsame Vorwegnahme

Auch in den sogenannten Religionskriegen des sechzehnten Jahrhunderts handelte es sich vor allem um sehr positive materielle Klasseninteressen, und diese Kriege waren Klassenkämpfe, ebensogut wie die späteren inneren Kollisionen in England und Frankreich. Wenn diese Klassenkämpfe damals religiöse Schibboleths trugen, wenn die Interessen, Bedürfnisse und Forderungen der einzelnen Klassen sich unter einer religiösen Decke verbargen, so ändert dies nichts an der Sache und erklärt sich leicht aus den Zeitverhältnissen.
Das Mittelalter hatte sich ganz aus dem Rohen entwickelt. Über die alte Zivilisation, die alte Philosophie, Politik und Jurisprudenz hatte es reinen Tisch gemacht, um in allem wieder von vorn anzufangen. Das einzige, das es aus der untergegangenen alten Welt übernommen hatte, war das Christentum und eine Anzahl halbzerstörter, ihrer ganzen Zivilisation entkleideter Städte. Die Folge davon war, dass, wie auf allen ursprünglichen Entwicklungsstufen, die Pfaffen das Monopol der intellektuellen Bildung erhielten und damit die Bildung selbst einen wesentlich theologischen Charakter bekam. (…) Es ist klar, dass hiermit alle allgemein ausgesprochenen Angriffe auf den Feudalismus, vor allem Angriffe auf die Kirche, alle revolutionären, gesellschaftlichen und politischen Doktrinen zugleich und vorwiegend theologische Ketzereien sein mussten. (…)
Die revolutionäre Opposition gegen die Feudalität geht durch das ganze Mittelalter. Sie tritt auf, je nach den Zeitverhältnissen, als Mystik, als offene Ketzerei, als bewaffneter Aufstand. Was die Mystik angeht, so weiß man, wie abhängig die Reformatoren des 16. Jahrhunderts von ihr waren; auch Müntzer hat viel aus ihr genommen. (…) In den beiden übrigen Formen der mittelalterlichen Ketzerei finden wir schon im zwölften Jahrhundert die Vorläufer des großen Gegensatzes zwischen bürgerlicher und bäurisch-plebejischer Opposition, an dem der Bauernkrieg zugrunde ging. Dieser Gegensatz zieht sich durchs ganze spätere Mittelalter
Die Ketzerei der Städte - und sie ist die eigentlich offizielle Ketzerei des Mittelalters - wandte sich hauptsächlich gegen die Pfaffen, deren Reichtümer und politische Stellung sie angriff. Wie jetzt die Bourgeoisie ein gouvernement à bon marché, eine wohlfeile Regierung fordert, so verlangten die mittelalterlichen Bürger zunächst eine église à bon marché, eine wohlfeile Kirche. Der Form nach reaktionär, wie jede Ketzerei, die in der Fortentwicklung der Kirche und der Dogmen nur eine Entartung sehen kann, forderte die bürgerliche Ketzerei Herstellung der urchristlichen einfachen Kirchenverfassung und Aufhebung des exklusiven Priesterstandes. (…)
Die Plebejer waren damals die einzige Klasse, die ganz außerhalb der offiziell bestehenden Gesellschaft stand. Sie befand sich außerhalb des feudalen und außerhalb des bürgerlichen Verbandes. Sie hatte weder Privilegien noch Eigentum; sie hatte nicht einmal, wie die Bauern und Kleinbürger, einen mit drückenden Lasten beschwerten Besitz. Sie war in jeder Beziehung besitzlos und rechtlos; ihre Lebensbedingungen kamen direkt nicht einmal in Berührung mit den bestehenden Institutionen, von denen sie vollständig ignoriert wurden. Sie war das lebendige Symptom der Auflösung der feudalen und zunftbürgerlichen Gesellschaft und zugleich der erste Vorläufer der modern-bürgerlichen Gesellschaft. Aus dieser Stellung erklärt es sich, warum die plebejische Fraktion schon damals nicht bei der bloßen Bekämpfung des Feudalismus und der privilegierten Pfahlbürgerei stehenbleiben konnte, warum sie, wenigstens in der Phantasie, selbst über die kaum empordämmernde modern-bürgerliche Gesellschaft hinausgreifen, warum sie, die vollständig besitzlose Fraktion, schon Institutionen, Anschauungen und Vorstellungen in Frage stellen musste, welche allen auf Klassengegensätzen beruhenden Gesellschaftsformen gemeinsam sind. Die chiliastischen Schwärmereien des ersten Christentums boten hierzu einen bequemen Anknüpfungspunkt. (…)
Diese gewaltsame, aber dennoch aus der Lebenslage der plebejischen Fraktion sehr erklärliche Antizipation auf die spätere Geschichte finden wir zuerst in Deutschland, bei Thomas Müntzer und seiner Partei. (…) Erst bei Müntzer sind diese kommunistischen Anklänge Ausdruck der Bestrebungen einer wirklichen Gesellschaftsfraktion, erst bei ihm sind sie mit einer gewissen Bestimmtheit formuliert, und seit ihm finden wir sie in jeder großen Volkserschütterung wieder, bis sie allmählich mit der modernen proletarischen Bewegung zusammenfließen; geradeso wie im Mittelalter die Kämpfe der freien Bauern gegen die sie mehr und mehr umstrickende Feudalherrschaft zusammenfließen mit den Kämpfen der Leibeigenen und Hörigen um den vollständigen Bruch der Feudalherrschaft.
Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg. In: Neue Rheinische Zeitung.
Politisch-ökonomische Revue. Fünftes und sechstes Heft, Mai bis Oktober 1850. Hier zitiert nach: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Band 7. Dietz-Verlag, Berlin 1960, Seiten 343–347
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