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Aus: Ausgabe vom 24.05.2025, Seite 15 / Geschichte
China

Geburt einer Massenpartei

Vor 100 Jahren verübte die Shanghaier Polizei ein Massaker. Die folgenden Proteste wurden zur Initialzündung für die KP China
Von Marc Püschel
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Zur Absperrung der Nanjing-Straße nach dem Massaker am 30. Mai 1925 setzten die Briten Hilfstruppen indischer Sikhs (l.) ein

In China war der Marxismus ein Spätzünder. Zur Zeit der Oktoberrevolution rezipierte im Reich der Mitte noch niemand die Schriften Marx’, Engels’ oder gar Lenins. Das änderte sich erst, als nach Ende des Ersten Weltkrieges Hunderte junge Chinesen für ein Werkstudium nach Frankreich gingen und dort mit revolutionären Ideen in Berührung kamen. Im März 1920 entstand an der Universität Beijing die »Gesellschaft zum Studium des Marxismus« unter der Leitung des Bibliothekars Li Dazhao, die zum Vorbild für ähnliche Arbeitsgruppen in anderen Städten wurde.

Der Zusammenschluss solcher lokalen Organisationen führte zwar zur Gründung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) am 23. Juli 1921, doch fristete diese lange ein Randdasein. So fanden sich auf dem Dritten Parteikongress im Sommer 1923 nur 30 Delegierte ein, die rund 430 Mitglieder vertraten – eine verschwindend geringe Zahl in einem Volk von 400 Millionen.

Doch die KPCh war mehr als eine Sekte. Dank einer Reihe außergewöhnlich fähiger Kader konnte die Partei rasch größere Massen organisieren. Da war etwa Peng Pai, der lange vor Mao Zedong die Bedeutung der Bauernschaft begriffen und bereits 1923 in der Provinz Guangdong einen Bauernverband mit 130.000 Mitgliedern aufgebaut hatte. Oder der KPCh-Mitbegründer Deng Zhongxia, der am 18. Mai 1925 die Gesamt-Nationale Allgemeine Arbeitergewerkschaft Chinas mitgründete und über diese Kontakt zu Hunderttausenden Arbeitern knüpfen konnte.

Anarchistische Zustände

Solche Zusammenschlüsse hatte die Arbeiterbewegung in China dringend nötig, denn politisch versank das Land im Chaos. Die bürgerliche Republik – am 1. Januar 1912 durch Sun Yat-sen ausgerufen – war nicht von Dauer. Unter dem Präsidenten Yuan Shikai wurde China ab 1913 wieder diktatorisch regiert, die neu gebildete Guomindang verboten. Anfang 1916 restaurierte Yuan sogar kurzzeitig die Monarchie, konnte sich allerdings als Kaiser nicht lange halten, dankte ab und starb kurz darauf im Juni 1916. Es folgte die Zeit der Warlords. Zwischen 1912 und 1928, als Chiang Kai-shek in Nanjing sein Regime etablierte, führten rund 1.300 lokale Kriegsherren fast 140 Kriege gegeneinander, die unzähligen Plünderungszüge nicht einberechnet.

Inmitten dieses Chaos entstanden aber auch neue Strukturen. Die wieder aktive Guomindang wurde unter der Führung Sun Yat-sens zu einer politischen Macht. Hilfe bekam die Partei von der UdSSR, die in ihr eine relevante revolutionäre Kraft sah. Mit Hilfe sowjetischer Vermittler schlossen KPCh und Guomindang am 26. Januar 1923 ein offizielles Bündnis. Zugleich orientierte sich die Guomindang zunehmend am demokratischen Zentralismus leninistischer Parteien – eine bürgerliche Partei mit bolschewistischer Strenge.

Die Stoßrichtung beider Parteien war antiimperialistisch, denn die westlichen Großmächte kontrollierten direkt oder indirekt immer noch die zentralen Hafenstädte des Landes. In Shanghai etwa lebten von 2,5 Millionen Einwohnern 40 Prozent unter der Verwaltung der Internationalen Niederlassung. In dieser Niederlassung wurden eigene Gesetze eingeführt sowie eigene Polizeitruppen und Gerichte unterhalten. Dazu kam der japanische Einfluss: Japan agierte zwar noch nicht so brutal und direkt kolonialistisch wie später in den 30er Jahren, kontrollierte aber ökonomisch große Gebiete an der chinesischen Küste. So gehörten in China 1925 beispielsweise 41 Baumwollspinnereien mit fast 90.000 Arbeitern japanischen Gesellschaften. Allein 27 davon lagen in Shanghai.

Blutige Straßen

So verquickte sich in der berühmten Hafenstadt der Arbeitskampf unmittelbar mit dem antiimperialistischen Kampf. Im Jahr 1925 kamen die Spannungen zum Ausbruch. Politisch, weil eine neue Zeit der Unsicherheit anbrach: Sun Yat-sen, die große Integrationsfigur des bürgerlichen Lagers, starb am 12. März. Und ökonomisch, weil die Ausbeutung in den japanischen Fabriken aufs Äußerste gesteigert wurde: Als Reaktion traten am 9. Februar über 20.000 Arbeiter aus elf japanischen Spinnereien für fast vier Wochen in Streik.

Am 15. Mai wurde ein junger Gewerkschafter, Gu Zhenghong, beim Versuch, eine Spinnerei der Firma Naigai-Wata zu stürmen, um einen Streik zu erzwingen, von einem japanischen Fabrikaufseher erschossen. Die Folge war eine Welle der Solidarität mit dem Ermordeten, bis zu 10.000 Menschen nahmen allein an der Trauerfeier am 24. Mai teil. Dabei nahm die Polizei der Internationalen Niederlassung sechs Studenten fest, die am 30. Mai vor dem »Mixed Court«, dem britisch kontrollierten Gericht, verurteilt werden sollten.

Solche Vorfälle waren damals fast schon an der Tagesordnung, nun allerdings nahm sich die KPCh der Sache an. Die Partei hatte zwar zu Beginn des Jahres 1925 nur knapp 1.000 Mitglieder im ganzen Land, davon jedoch allein in Shanghai fast 300. Zahlreiche Genossen, darunter etwa Cai Hesen, ein Freund Mao Zedongs, organisierten nun Demonstrationen und Streiks. Für den 30. Mai 1925 war geplant, große Gruppen von Studenten auf die Straßen der Internationalen Niederlassung zu schicken.

Tatsächlich sammelten sich am Nachmittag mehrere hundert Studenten und Arbeiter auf der zentralen Nanjing-Straße und zogen mit antiimperialistischen Transparenten (»Boykottiert japanische Waren!«) vor die dortige Polizeiwache, wo ein Teil der festgenommenen Studenten einsaß. Der Polizeichef E. W. Everson befürchtete, die Demonstranten würden die Station, in der auch viele Waffen lagerten, stürmen und geriet in Panik. Nach einer kurzen Warnung eröffneten die Polizisten um 15.37 Uhr das Feuer. Als die Waffen schwiegen, waren zwölf Menschen tot und Dutzende verletzt.

Streiks und Repression

Was darauf folgte, ging als »30.-Mai-Bewegung« in die Geschichte ein. Es waren die größten Massenproteste, die China bis dato erlebt hatte, denn rasch weiteten sie sich auf das ganze Land aus. In Hongkong traten – angeführt von dem bereits erwähnten Deng Zhongxia – mehrere zehntausend Arbeiter und Angestellte in Streik. Der Ausstand dauerte vom 19. Juni 1925 bis zum 10. Oktober 1926 und ist damit einer der längsten Streiks der Weltgeschichte überhaupt.

Auch in zahlreichen anderen Städten wurde demonstriert, teils befanden sich die ausländischen Niederlassungen in einer Art Belagerungszustand. Überall verband sich der ökonomische Kampf mit dem politischen, unter Anklage standen Japan und die westlichen Großmächte, die sich mit ihren »Ungleichen Verträgen« immer noch Zugriffsrechte auf chinesische Gebiete und Hoheitsrechte sicherten.

In Shanghai befanden sich Mitte Juni bis zu 150.000 Arbeiter im Streik. Sogar das spätere Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie gegen die japanischen Faschisten deutete sich bereits an: Die mächtige Allgemeine Chinesische Handelskammer unter ihrem Präsidenten Yu Xiaqing schloss sich dem Protest an und legte das Geschäftsleben in der Stadt lahm.

Daraufhin erklärte der von den Westmächten kontrollierte Shanghaier Stadtrat den Ausnahmezustand, 22 Kriegsschiffe und eine ausländische Verteidigungsmiliz wurden zusammengezogen. Doch erst im Herbst ebbte die Bewegung ab. Die japanischen Fabrikanten machten Zugeständnisse, um die Arbeiter wieder in die Spinnereien zu kriegen, und die Behörden konnten den wichtigsten kommunistischen Organisator in der Stadt, Liu Hua, festnehmen. Am 17. Dezember wurde er hingerichtet.

Für die KPCh war es dennoch ein riesiger Erfolg. Ihre Mitgliederzahl explodierte geradezu. Binnen eines Jahres verzehnfachte sie sich auf 10.000 im Januar 1926. Im April 1927 waren es sogar 58.000. Die 30.-Mai-Bewegung wurde zum wichtigsten Katalysator des organisierten Marxismus in China. Nur dank den neu geschaffenen Voraussetzungen konnte die KPCh den Weißen Terror der Guomindang, der im April 1927 einsetzte, überleben.

Bis heute wird die 30.-Mai-Bewegung in China in Ehren gehalten. Im März dieses Jahres eröffnete die KPCh in Shanghai anlässlich des 100. Jahrestags eine Ausstellung zu den Ereignissen von 1925.

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