»I can’t breathe«
Von Jürgen Heiser
Fünf Jahre ist es her, seit sich die weltweite Aufmerksamkeit auf Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota richtete, nachdem dort am 25. Mai 2020 mit George Floyd ein weiterer Afroamerikaner Opfer rassistischer Polizeigewalt geworden war. Der 46jährige war in einem Laden verdächtigt worden, Zigaretten mit einem falschen 20-US-Dollar-Schein bezahlen zu wollen. Der Ladenbesitzer löste mit seinem Anruf bei der Polizei einen verhängnisvollen Einsatz aus, an dessen Ende Floyd von dem weißen Streifenpolizisten Derek Chauvin erstickt wurde. Endlose neun Minuten und 29 Sekunden lang hatte Chauvin dem am Boden Liegenden sein Knie ins Genick gepresst und erbarmungslos Floyds flehentliche Worte »I can’t breathe« ignoriert.
Floyds Hilferuf »Ich kann nicht atmen« wurde zum Synonym für die Lage der schwarzen Bevölkerung, der in der rassistischen US-Gesellschaft die Luft zum Leben genommen wird. Mit dem Akt tödlicher Polizeigewalt wiederholte sich das Trauma eines brutalen Rassismus gegen Menschen, deren Vorfahren als Sklaven aus Afrika verschleppt worden waren und die bis heute um ihre Bürgerrechte kämpfen müssen.
Zeugin des Mordes an Floyd war die damals 17jährige Darnella Frazier, die seinen Todeskampf mit ihrer Handykamera festhielt. Die Aufnahme ging viral und sollte später im Gerichtsverfahren gegen Chauvin als Hauptbeweis dienen. Zu Beginn des Mordprozesses im März 2021 erzählte Frazier vor Gericht, sie werde nachts immer wieder wach und bitte George Floyd um Verzeihung, weil sie »nicht mehr getan« habe, zitierte sie das US-Onlineportal The 19th News. Sie fühle sich schuldig, weil sie gesehen habe, »dass er Schmerzen hatte« und »in Gefahr und machtlos war«. Sie habe »wochenlang nicht richtig geschlafen«, so die junge Frau, »und jedesmal, wenn ich ein Polizeiauto sah, Panik- und Angstattacken gehabt«.
Bravada Garrett-Akinsanya, klinische Psychologin und Expertin für rassistische Traumata, erklärte gegenüber The 19th News, Fraziers Qualen seien in vielerlei Hinsicht typisch »für junge Schwarze, insbesondere für junge schwarze Frauen und Mädchen, für die die Auswirkungen von Polizeigewalt auf die psychische Gesundheit besonders gravierend« seien. Diese Angstzustände seien in den schwarzen Gemeinden weitverbreitet, so die Psychologin.
Der Mord an George Floyd sei die »größte Schande in der amerikanischen Geschichte«, hatte der Bürgerrechtler und Pastor Al Sharpton auf einer Kundgebung in Minneapolis anlässlich des ersten Jahresgedenkens zum Mord an Floyd erklärt. Doch »Schwarz und Weiß, Jung und Alt« seien »inmitten der Pandemie auf die Straße gegangen«, hob Sharpton den Mut und den Widerstand der antirassistischen Bewegung hervor, die während der ersten Amtszeit von Donald Trump trotz Repressionen entschlossen gegen Polizeigewalt demonstrierte.
Als Reaktion auf die Lynchmorde an Trayvon Martin 2012 und Michael Brown 2014 war die »Black Lives Matter«-Bewegung ins Leben gerufen worden. Nach dem Mord an Floyd wurde sie zur Massenbewegung, die weit über die Landesgrenzen ausstrahlte und auch die palästinensische Jugend in den besetzten Gebieten des Gazastreifens und des Westjordanlands mobilisierte.
Über die sehr starke palästinensische Solidarität mit dem schwarzen Widerstand in den USA wurde in den internationalen Medien kaum berichtet. Diese militante Protestbewegung schuf an zahlreichen Häuserwänden palästinensischer Ortschaften und an der von Israel errichteten Apartheidmauer große Wandgemälde mit Floyds Porträt und Slogans wie »I can’t breathe – Justice for George Floyd« und »Black and Palestinian Lives Matter«. Viele Palästinenser identifizierten sich mit Floyd, weil sie ebenfalls schon vom Knie eines Polizisten oder Soldaten der israelischen Besatzungstruppen im Genick in den Staub gepresst wurden.
Taqi Spateen aus Ramallah war einer der palästinensischen Künstler, die 2020 die Proteste in den USA unterstützten. Er malte Floyds Gesicht auf die Schandmauer, die das Westjordanland von Israel trennt. »George Floyd wurde getötet, indem sie ihn praktisch erwürgten«, erklärte Spateen gegenüber dem unabhängigen israelisch-palästinensischen Onlineportal Mondoweiss, »und uns erwürgt diese Mauer jeden Tag und raubt uns den Atem.«
Fünf Jahre später entfesselt Tel Aviv heute im Gazastreifen die zweite »Nakba« (Katastrophe), und im Westjordanland schützt das Militär des Apartheidregimes die Gewaltorgien zionistischer Siedlerbanden und lässt der palästinensischen Bevölkerung an keinem Ort mehr Luft zum Atmen. Gegen Völkermord und ethnische Säuberungen kämpft in den USA heute eine breite Solidaritätsbewegung im Geist des Widerstands gegen die eigenen Unterdrücker.
Die erneute Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten fand im Schatten der israelischen Völkermordkampagne statt. Im Wahlkampf war es vor allem die Demokratische Partei, die durch den Vorwurf des »Antisemitismus« jede Kritik an der extrem rechten Regierung Benjamin Netanjahus zu unterbinden und die Solidarität zwischen Schwarzen und Palästinensern zu zerschlagen versuchte. Doch es nützte nichts. Demokraten wie Republikaner sehen sich einer Massenbewegung auf den Straßen, in den Ghettos und an den Universitäten gegenüber, die bis heute trotz aller Repressalien die engen Verbindungen zwischen dem militärisch-industriellen Komplex der USA und Israel, zwischen der US-amerikanischen und der israelischen Armee, zwischen der US-Polizei und dem israelischen Sicherheitsapparat öffentlich macht und ein Ende von Rassismus, Krieg und Völkermord und ein freies Palästina fordert.
Hintergrund: Verlorene Hoffnungen
Am fünften Jahrestag des Mordes an George Floyd wird die Aufmerksamkeit der Welt erneut auf die Polizeigewalt in den USA gelenkt. In der Folgezeit der Ereignisse des Mai 2020 waren viele Befragte der Meinung, dieser historische Moment werde später in der Rückschau derjenige sein, »der einen dauerhaften Wandel in Richtung ›Rassengleichheit‹ bewirkt« habe. Diese Annahme überprüfte jetzt die überparteiliche US-Denkfabrik Pew Research Center (kurz Pew genannt) mit Sitz in Washington, D. C. Pew liefert nach eigenen Worten »Informationen über soziale Themen, die öffentliche Meinung und demographische Trends, die die Vereinigten Staaten und die Welt prägen«.
Laut einer am 7. Mai veröffentlichten Studie des Centers seien im September 2020 noch 52 Prozent der Erwachsenen in den USA der Meinung gewesen, »dass eine verstärkte Konzentration auf Fragen des Rassismus im ganzen Land in den kommenden Jahren zu erheblichen positiven Veränderungen führen« werde. Doch im Jahr 2025 gaben dem entgegen 72 Prozent der Befragten in den USA an, »dass die Konzentration auf die Ungleichheit der ›Rassen‹ keine Verbesserungen für die schwarze Gemeinschaft bewirkt hat«. »Darüber hinaus bezweifeln 67 Prozent der schwarzen Amerikaner im Jahr 2025, dass die Vereinigten Staaten jemals die Gleichberechtigung der ›Rassen‹ erreichen werden.« Dieser Meinung waren die Befragten schon fünf Jahre zuvor mit 65 Prozent in fast gleicher Zahl.
Auch das Verhältnis zur »Black Lives Matter«-Bewegung hat sich nachteilig verändert. BLM habe während der Proteste im Jahr 2020 mit 67 Prozent der befragten US-Bürger einen ersten Höhepunkt der Zustimmung erfahren, die nach der Ermordung von Floyd bezüglich der Verwendung des Hashtags #BlackLivesMatter noch eine Steigerung erreicht habe. Die Unterstützung für »Black Lives Matter« fiel im Vergleich zum Juni 2020 bis heute jedoch um 15 Prozentpunkte auf aktuell 52 Prozent. (jh)
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