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Aus: Ausgabe vom 24.05.2025, Seite 2 / Ausland
Revolution im Sudan 2019

»Protest, Kunst und Politik sind hier eng verzahnt«

Über die Rolle von Kultur und Ästhetik im sudanesischen Volksaufstand. Ein Gespräch mit Valerie Hänsch
Interview: Richard Malone
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Wandbilder mahnen, erinnern und ziehen Sudanesen in ihren Bann (Karthum, 6.5.2019)

Sie forschen zur Rolle von Kultur und Ästhetik im sudanesischen Volksaufstand 2018/19. Welchen Einfluss hatte die Kunst beim Sturz des Regimes von Omar Al-Baschir?

Mit der sogenannten Dezemberrevolution 2018 kam es zu einem enormen Ausbruch künstlerischer Praktiken im öffentlichen Raum. Künstler gestalteten Wandbilder, machten Musik auf den Straßen, sprühten Gedichte an Hauswände, und die Protestierenden riefen Parolen und rezitierten Gedichte. Bis dahin war Kunst praktisch nicht präsent im öffentlichen Raum. Es gab nur wenige Galerien; Wandmalereien waren verboten und wurden kaum praktiziert. Mit der Islamisierung unter dem vorherigen Präsidenten Omar Al-Baschir wurde die Kunst zunehmend ausgetrocknet. Der Platz vor dem Militärhauptquartier, den die Protestierenden 2019 mehrere Monate besetzten, verwandelte sich dann in einen Ort für Theater, Musik und Kunst. In den Liedtexten, Gedichten und Wandbildern drückten die Künstler und Aktivisten ihre politischen Forderungen und Wünsche für einen neuen Sudan aus. Die Kunst transportierte also nicht nur die Botschaften der Massen, sie formte auch die Vorstellungen über eine neue Zukunft des Sudans. Protest, Kunst und Politik sind hier eng verzahnt. Dabei nahmen die Künstler Inhalte und Genres der zwei vorherigen Revolutionen im Sudan auf. Das heißt, Menschen konnten sich auf etwas Vertrautes beziehen, was wiederum Gefühle der Solidarität und des Aufbruchs weckte. Ein zentrales Ergebnis meiner Forschung ist, dass sich mit der Revolution spezifische ästhetische Stile und Genres herausbildeten.

Welchen Einfluss hatte die »Dezemberrevolution« auf die Kunst sowie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und Ethnien?

Viele junge Menschen waren begeistert von den künstlerischen Produktionen und wurden von den Eindrücken inspiriert, selbst Kunst zu machen. Es bildeten sich Kollektive, die anfingen, ihre kreativen Praktiken auszubauen und professionell zu betreiben. Ebenso eröffneten neue Galerien und Kulturzentren in Khartum und Omdurman, die Künstlern einen Raum boten und die Ideen des sozialen und politischen Wandels ausdrückten. Die Kulturszene ist enorm aufgeblüht und hat die Städte belebt. Junge Frauen haben sich dabei aktiv eingebracht, viele Wandbilder gemalt, Gedichte bei Protesten rezitiert und Musik gemacht. Damit haben sie den öffentlichen Raum eingenommen, was wiederum zu ihrer eigenen Selbstermächtigung beitrug. Insgesamt hoben die Künstler und Aktivisten immer wieder die Einheit des Sudans hervor.

Welche Rolle kommt der Kunst bei dem Gedenken an die Gefallenen des Aufstandes zu?

Die Erinnerung an die Menschen, die während der Proteste 2018/19 und nach dem Militärputsch 2021 von »Sicherheitskräften« getötet wurden, ist enorm wichtig. An sie wird in Gedichten und Wandbildern erinnert. Sie sollen nicht vergessen werden, und damit wird auch die Erinnerung an das Streben nach Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden, für das diese Menschen gestorben sind, hochgehalten. Es hatte sich ein Kollektiv aus Künstlern gegründet, das speziell zu den Märtyrern forschte und Wandbilder malte, um an sie und ihre Forderungen zu erinnern. Dieser Teil der Erinnerungskultur war für die Aufrechterhaltung der Proteste unter repressiven Bedingungen sehr wichtig.

Wie ist die Situation aktuell für Künstler im und aus dem Sudan?

Die Situation der Künstler ist sehr schlecht. Viele flohen in Nachbarländer, einige haben sich in Port Sudan niedergelassen und dort Studios aufgemacht. Doch die meisten, mit denen ich arbeitete, sind nach Nairobi, Kairo oder Kampala geflüchtet, einige auch in die Golfstaaten. Nairobi ist ein Knotenpunkt für Kunst in Ostafrika, und es bestanden bereits vor dem Krieg kreative Verbindungen zwischen Kenia und dem Sudan. Mit der Zeit haben die Künstler neue Netzwerke aufgebaut. Sie organisieren im Exil Ausstellungen und Events, wie beispielsweise Filmfestivals, und tragen dazu bei, sudanesische Kunst bekannter und vor allem auf den Krieg aufmerksam zu machen. In Anbetracht der Medien, die kaum über den Sudan berichten, ist das sehr wichtig.

Valerie Hänsch ist eine mehrfach ausgezeichnete deutsche Ethnologin

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