Der Sahnezug
Von Sören Bär
José Raúl Capablanca wurde am 19. November 1888 in Havanna geboren und ging als dritter Schachweltmeister in die Annalen ein. Das Wunderkind Capablanca brillierte durch scheinbar müheloses Spiel und war kaum zu bezwingen. 1921 entthronte er den deutschen Champion Emanuel Lasker in Havanna und behielt den Titel bis 1927, als er das WM-Match in Buenos Aires gegen Alexander Aljechin überraschend verlor. Die Schachaficionados in aller Welt hofften sehnsüchtig auf ein Revanchematch. Vergeblich, denn als es 1939 bei der Schacholympiade in Buenos Aires zu einer Annäherung der Schachgenies kam, begann der Zweite Weltkrieg. Capablanca erlitt im Manhattan Chess Club einen Schlaganfall und verstarb am 8. März 1942.
Das Capablanca-Memorial wurde durch den legendären Comandante Ernesto »Che« Guevara ins Leben gerufen. Guevara, zeitweise kubanischer Industrieminister, Leiter der Zentralbank und großer Schachliebhaber, popularisierte auf der Karibikinsel das königliche Spiel. Das Gedenkturnier wird vom Instituto Nacional de Deportes, Educación Física y Recreación de Cuba (INDER) sowie vom kubanischen Schachverband organisiert und ist eines der international namhaftesten. Die Siegerliste liest sich wie das Who’s Who der vergangenen sechs Jahrzehnte. Der argentinische Großmeister (GM) Miguel Najdorf gewann die erste Ausgabe 1962. 1964 feierte DDR-GM Wolfgang Uhlmann einen beachtlichen Erfolg, als er den Sieg mit Exweltmeister Wassili Smyslow (UdSSR) teilte. Smyslow gewann auch 1965 und 1973.
Insbesondere das Memorial vor genau sechs Jahrzehnten erregte weltweit Aufmerksamkeit. Der spätere Weltmeister Robert James »Bobby« Fischer (USA) pflegte seit Februar 1956, als er mit gerade zwölf Jahren bei seiner ersten Auslandsreise im Club Capablanca in Havanna spielte, eine besondere Beziehung zu Kuba. 1965 verweigerten ihm die USA jedoch die Reise. Die Organisatoren und Fischer fanden eine originelle Lösung: Während alle anderen 19 Teilnehmer im Habana Libre Hotel in Havanna spielten, absolvierte Fischer seine Partien per Telex aus dem Marshall Chess Club in New York. In Havanna nahm Capablancas Sohn José Raúl Capablanca jr. dessen Züge entgegen. Für Fischer war das eine enorme physische Herausforderung, den jede seiner Begegnungen dauerte aufgrund der aufwendigen Zugübermittlung mehr als neun Stunden. Fischer schlug Turniersieger Smyslow und teilte mit Borislav Ivkov (Jugoslawien) und Jefim Geller (UdSSR) die Ränge zwei bis vier. Einsamer Rekordhalter ist Wassili Iwantschuk (Ukraine), der bei seinen zehn Teilnahmen achtmal die Siegespalme errang. Auch die Leipziger Lothar Vogt und Rainer Knaak verbinden angenehme Erinnerungen mit dem Capablanca-Turnier. Während Knaak 1974 seine entscheidende GM-Norm erreichte und 1984 siegte, gelang Vogt 1976 die finale GM-Norm, als er die Weltklassespieler Ulf Andersson (Schweden) und Alexander Beljawski (UdSSR) bezwang. Nur 1966 pausierte das Memorial, weil Guevara mit der Schacholympiade ein noch größeres Event nach Havanna holte, um das sich bis heute Legenden ranken.

Die diesjährige 58. Auflage wurde vom 9. bis 19. Mai mit etwa 500 Aktiven im Hotel Meliá Internacional Varadero in Matanzas ausgetragen. Als Flaggschiff des Festivals diente die prestigeträchtige Elitegruppe, in der fünf hochkarätige Großmeister doppelrundig aufeinandertrafen. Besonders gespannt war man auf den Auftritt des erst 18jährigen russischen Schnellschachweltmeisters Wolodar Mursin.
Doch auch Arseni Nesterow (Russland, 22 Jahre), Jonas Buhl Bjerre (Dänemark, 20) und der kubanische Lokalmatador Carlos Daniel Albornoz Cabrera (24) befinden sich noch im jugendlichen Alter. Als erfahrenster Teilnehmer ging Jewgeni Romanow (36) an den Start, der seit 2024 für Nordmazedonien spielt. Die Youngster Mursin und Bjerre lieferten sich ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen und kamen einträchtig mit 5,5 Punkten aus acht Partien ins Ziel. Da Bjerre das direkte Duell gegen Mursin 1,5:0,5 gewonnen hatte, errang er nach Wertung den Sieg. Der in Silkeborg geborene Däne blieb ungeschlagen. Ihm gelang gegen Romanow mit einem aufsehenerregenden Springeropfer auch der »Sahnezug« des Turniers. Den dritten Rang sicherte sich Nesterow (4,5), während Romanow (2,5) und Albornoz Cabrera (zwei) die Plätze vier und fünf belegten. Das Senioren-Open entschied der brasilianische GM Darcy Lima für sich, der mit 7,5 Punkten aus neun Partien den legendären 64jährigen GM Reynaldo Vera González-Quevedo, Trainer der kubanischen Nationalmannschaft, um einen halben Zähler übertrumpfte. Bronze ging an die kubanische Frauen-GM Zirka Frometa Castillo (sechs). Im Open setzte sich der Kubaner Daniel Hidalgo Diaz mit 6,5 aus 9 nach Wertung vor seinen punktgleichen Landsmännern José Hernandez Izquierdo, Leduard Manuel Gonzalez Soler und Raymond Daniel Azahares Serrano durch. In den Nachwuchsturnieren der Altersklassen U8, U12 und U16 konnte man die kubanischen Titelträger der Zukunft entdecken.
Jonas Buhl Bjerre – Jewgeni Romanow
58. Capablanca-Memorial, Matanzas, Eliteturnier, Runde 5, 14. Mai 2025 – Französisch – Vorstoßvariante
1.e4 e6 2.d4 d5 3.e5 c5 4.c3 Sc6 5.Sf3 Ld7 6.Le2 Tc8 7.O-O h6?! (7…cxd4 8.cxd4 Sge7) 8.Sbd2 cxd4 9.cxd4 Sge7 10.Sb3 b6?! (10…Sf5) 11.Ld2 (11.La6 Tc7 12.Ld2 Sf5 13.Tc1 +/=) 11…a5 12.a4 Sf5 13.Ld3 Lb4 14.Lc3 O-O 15.Sc1! Sh4 16.Sxh4 Dxh4 17.Se2 f6? (Notwendig war 17…Dh5, doch ließ sich der folgende »Sahnezug« kaum vorhersehen.) 18.Sf4!! (Dieses spektakuläre Springeropfer droht 19.Sg6 mit Eroberung der Dame.) 18…fxe5 (Der Damenfang nach 18…Dxf4 19.g3 Dg5 20.f4 +- ist die eigentliche Pointe.) 19.Sg6 Dg5 (Die Dame ist gerettet, doch die Qualität geht verloren.) 20.Sxf8 (Mit seinem siebenten Zug verleibt sich der Rappe den Turm ein. Bei 20.h4 Dd8 21.Lxb4 Sxb4 22.Sxf8 Dxf8 23.dxe5 Df4 24.De2 Sxd3 25.Dxd3 Dxe5 26.Tac1 Txc1 27.Txc1 Dxb2 hätte Schwarz noch kämpfen können.) 20…Txf8 21.Lb5 Ld6 22.Tc1 Dh4 23.g3 De4 24.dxe5 Lc5 25.Ld3 Df3 26.Dxf3 Txf3 27.Lb5 g5 28.b4! axb4 (Auch nach 28…Txc3!? 29.Txc3 axb4 30.Tb3 Sxe5 31.Te1 Lxb5 32.axb5 Ld4 33.Kf1 Kf7 34.Te2 Kf6 35.Txb4 +- setzt sich Weiß durch.) 29.Lxc6 Lxc6 30.Lxb4 Lxa4 (30…Lxb4 31.Txc6 +-) 31.Lxc5 bxc5 32.Txc5 Kg7? (32…Tf7) 33.Tc7+ Kg6 34.Te7 g4 35. Txe6+ Kf5 36.Txh6 Kxe5 37.Te1+ Kd4 38.h3 Kd3 39.Td6 d4 40.hxg4 Lc2 41.Te8 1:0 (Nach 41…Kc3 42.Tc8+ Kd3 43.Tcd8 +- geht der Bauer d4 verloren.)
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