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Aus: Ausgabe vom 22.05.2025, Seite 12 / Thema
Geschichte der Arbeiterbewegung

Gespaltene Einheit

Lassalle oder Marx? Zum 150. Jubiläum des Gothaer Vereinigungsparteitags von Allgemeinem Deutschen Arbeiterverein und Sozialdemokratischer Arbeiterpartei
Von Ingar Solty
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August Bebel, der später in der Sozialdemokratie so wichtig wurde, dass man ihn Gegen- bzw. Arbeiterkaiser nannte, spricht auf dem Gothaer Parteitag im Mai 1875

Auf dem Parteitag in Gotha beschlossen der 1863 von Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) und die im August 1869 in Eisenach durch August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) Ende Mai 1875 ihre Vereinigung. So entstand die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), die drei Jahre später verboten wurde und nach der Verbotsaufhebung 1890 ihren Namen in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) änderte.

Bis zur Fusion standen ADAV und SDAP in Konkurrenz zueinander. Sie verfügten auch über rivalisierende Gewerkschaften. Die Differenzen hatten mit unterschiedlichen Strategien bezüglich der Emanzipation der Arbeiterklasse zu tun, die selbst wiederum in konträren Sozialisationen der Führungspersönlichkeiten wurzelten.

Die Gründung von ADAV und SDAP war Ausdruck der beschleunigten Entwicklung des Kapitalismus. Sie markiert den endgültigen Bruch von liberalem Bürgertum und sozialistischer Arbeiterbewegung. In der gemeinsamen, europaweiten Revolution von 1848, die sich in demokratischem Geist gegen die Monarchie wandte, war das Proletariat erstmals eigenständig aufgetreten. Die Angst des Bürgertums vor weitergehenden Forderungen führte zur »konservativen Wende« des Liberalismus und zur Konterrevolution. Im Ergebnis entstand eine »Klassensymbiose von Junkertum und Bourgeoisie« (Lothar Machtan/Dietrich Milles) in einem autoritären Staat, in dem die adelige Grundbesitzerklasse die politisch-militärische Macht behielt, aber im Bündnis mit den Nationalliberalen die kapitalistische Entwicklung von oben steuerte. Dies war die Grundlage der »Sammlungspolitik« Bismarcks, der die Nationalstaatsgründung – den einheitlichen Handelsraum – auf dem Wege der Reichseinigungskriege (1864–1871) und im Sinne der »kleindeutschen Lösung« ohne Österreich herbeiführte. Das Scheitern der bürgerlichen Revolution führte in der Geschichtsschreibung zur These vom »deutschen Sonderweg«.

Lassalle und der Staat

Der ADAV war die erste politische Vereinigung von Arbeitern. Lassalle, glühender Anhänger des »Manifests der Kommunistischen Partei« und zugleich beeinflusst von Hegels idealistischer Staatsidee, gründete ihn quasi im Alleingang, nachdem er sich ein Jahr zuvor von Berlin aus auf Agitationstour durch die Arbeiterbildungsvereine begeben hatte. Er bat Marx um Mitarbeit, der aber war skeptisch. Zwar waren sie sich einig, dass die Arbeiter sich vom Bürgertum und Liberalismus emanzipieren müssten und die Emanzipation des vierten Standes sich nur zu Lasten des dritten Standes vollziehen könne; auch dass eine parlamentarische Vertretung der Arbeiterklasse nötig und das universelle und gleiche Wahlrecht zu erkämpfen sei. Die Differenz zeigte sich in Lassalles ökonomischer Analyse, konkret dessen These vom »ehernen Lohngesetz«, demnach die Arbeiter im Kapitalismus niemals mehr verdienen könnten, als das zur Sicherung des Existenzminimums Notwendige. Das klang radikal. Aber die These führte Lassalle zur Skepsis gegenüber dem Klassenkampf und seine idealistische Staatsauffassung zum Etatismus: Der ADAV sollte den Staat zur Reform zwingen, ja ihn überzeugen, mit staatlichen Subventionen den Weg in einen genossenschaftlichen Sozialismus zu ebnen.

Auch Marx vertrat eine Verelendungstheorie, war aber Gegner des »ehernen Lohngesetz«. Er verstand Verelendung als relativen, nicht absoluten Begriff und war der Auffassung, dass Lohnkämpfe sehr wohl den Lebensstandard der Arbeiterklasse heben können. Auch sah Marx das Elend in der geistig verkrüppelnden Wirkung der Lohnarbeit. Klassenkämpfe um Löhne und kürzere Arbeitszeit würden den Kapitalismus nicht abschaffen, aber helfen, die Arbeiterklasse zu formieren. Ihre Emanzipation sollte schließlich über die revolutionäre Eroberung der Macht erfolgen. Lassalle setzte demgegenüber auf den bürgerlichen Reformwillen und glaubte, das allgemeine Wahlrecht verwandle den bürgerlichen Staat in ein Werkzeug der Mehrheit, was Marx für eine Illusion hielt.

Die strategischen Differenzen sind auch Ausdruck unterschiedlicher Mentalitäten. Marx und seine Anhänger prägte die Erfahrung von demokratischer Revolution und Exil, der Lassalleanismus entstand unter der Herrschaft der Reaktion: 1851 wurden im Deutschen Bund mit dem »Bundesreaktionsbeschluss« die Grundrechte aufgehoben. Die Armee leistete ihren Treueschwur wieder auf den König, den Landesparlamenten wurde das Haushaltsrecht entzogen, das Recht, sich zu organisieren, wurde ebenso massiv eingeschränkt wie die Pressefreiheit.

Lassalle war formell auch ein 48er, der durch Glück der Zwangsexilierung entging, aber seine Anhänger waren es nicht. Hinzu kommt, dass auch Lassalles Vorstellung des Machbaren durch die Repression geprägt war, was, wie Wolfgang Abendroth beschrieben hat, zur Anpassung führte. Zugleich war sie mitverantwortlich für Lassalles quasidiktatorischen Führungsstil als ADAV-Präsident. Darüber hinaus prägte das seit 1850 geltende Koalitionsgesetz, das Verbindungen zu Auslandsorganisationen verbot, Lassalles Nationalperspektive.

Der auf seiner Staatsauffassung fußende Voluntarismus hilft erklären, warum Lassalle nach dem preußischen Verfassungskonflikt von 1862 Kontakt zu Bismarck aufnahm, um mit ihm über ein Bündnis zwischen Industriearbeiterklasse und konservativem Großgrundbesitz gegen die liberale Bourgeoisie zu verhandeln. Bismarck überlegte, das allgemeine Wahlrecht zu gewähren, um die Liberalen im Parlament zu schwächen, und signalisierte Offenheit für Lassalles Idee der staatlich geförderten Produktivgenossenschaften. Ernsthaft erwogen hat Bismarck Lassalles Vorschläge aber nicht.

Schon im August 1864 starb Lassalle an den Folgen eines Duells. Die Zukunft des ADAV war damit offen. Erst zum Jahreswechsel 1865/66 wurde mit Carl Wilhelm Tölcke ein Nachfolger bestimmt.

Wilhelm Liebknecht, ebenfalls ein demokratisch-revolutionärer 48er, der im Exil in der Schweiz Engels und in London Marx kennengelernt hatte, kehrte 1862 nach Deutschland zurück und leitete in Leipzig den Bildungsverein. Zu Lassalle stand er in Distanz. Ihm missfielen der Autoritarismus, die Ablehnung der Gewerkschaften und dessen Bereitschaft zum Bündnis mit der Reaktion. Liebknecht forderte von Marx, die Führung zu übernehmen. Der aber lehnte ab, aufgrund programmatischer Differenzen und weil ihm das Aufenthaltsrecht fehlte. Marx war zudem schon dabei, seine proletarisch-internationalistischen und demokratisch-revolutionären Vorstellungen in der »Internationalen Arbeiterassoziation« (IAA), der Ersten Internationale, zu verwirklichen, die 1864 gegründet wurde.

Im Bündnis mit Bismarck

Das einstweilige Zentrum des ADAV war Der Social-Demokrat, der ab Ende 1864 erschien. Er wurde von Johann Baptist von Schweitzer herausgegeben, der ab 1867 auch die Präsidentschaft des ADAV übernahm. Die zwischenzeitliche Annäherung von Marx und ADAV zeigte sich darin, dass Schweitzer Liebknecht, Marx und Engels um Mitarbeit bat. Gleich in der ersten Ausgabe des Social-Demokrat wurde auch auf die Gründung der IAA hingewiesen. Der beiliegende Prospekt bezog sich weder namentlich noch inhaltlich auf Lassalle, sondern benannte als Ziele solche, die auch Marx und Engels teilten: »Solidarität der Völkerinteressen«, »das ganze gewaltige Deutschland – ein freier Volksstaat« und die »Abschaffung der Kapitalherrschaft«. In den nächsten Ausgaben wurde Marx’ »Inauguraladresse« der IAA veröffentlicht – mit Spitzen gegen Lassalle; Marx betonte hier sowohl die Notwendigkeit der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse als auch das Bekenntnis zum proletarischen Internationalismus.

Lassalles Annäherung an Bismarck vor Augen – wobei das ganze Ausmaß erst viel später bekannt wurde – trat Liebknecht vehement gegen die »Taktik, nur gegen die Bourgeoisie, aber nicht gegen die Regierung zu kämpfen«, auf. Er setzte sich statt dessen für ein »Bündnis der selbständigen revolutionären Arbeiterpartei mit dem bürgerlich-demokratischen Fortschritt gegen Bismarck, nicht umgekehrt für die Tolerierung der preußischen Politik und den Kampf nur gegen Bourgeoisie und Fortschrittspartei« ein. Weil Liebknecht es zur Bedingung seiner Mitarbeit gemacht hatte, beteuerte Schweitzer, »jedes Kokettieren mit der Reaktion zu vermeiden«.

Das Misstrauen war begründet. Anfang Januar 1865 gratulierte Marx Schweitzer noch zur Konfiskation einer Ausgabe und drängte ihn zu einer oppositionelleren Haltung. Schweitzer reagierte ausweichend. Das Misstrauen wuchs. Am 18. Februar schrieb Marx an Engels: »Ich halte den Schweitzer für unverbesserlich (wahrscheinlich im geheimen Einverständnis mit Bismarck).« In einem Brief an die Redaktion des Social-Demokrat hatte er kurz zuvor die Differenzen zwischen den »staatssozialistischen« Lassalleanern und den proletarischen Internationalisten dargelegt. So griff er Schweitzers Kritik von Streiks an, die aufgrund der extrem gewerkschaftsfeindlichen Gewerbeordnung von 1845 (gegen die sich seit einem Jahr auch eine Kampagne der Berliner Buchdrucker richtete) illegal waren und mit Polizei und Militär bekämpft wurden: »Koalitionen mit den aus ihnen erwachsenden trades unions sind nicht nur als Mittel der Organisation der Arbeiterklasse zum Kampfe mit der Bourgeoisie von der äußersten Wichtigkeit – diese Wichtigkeit zeigt sich u. a. darin, dass selbst die Arbeiter der United States trotz Wahlrecht und Republik derselben nicht entbehren können –, sondern in Preußen und Deutschland überhaupt ist das Koalitionsrecht außerdem ein Durchbrechen der Polizeiherrschaft und des Bürokratismus, zerreißt die Gesindeordnung und die Adelswirtschaft auf dem Lande, kurz, es ist eine Maßregel zur Mündigmachung der ›Untertanen‹, welche die Fortschrittspartei (…) hundertmal eher gestatten könnte als (…) Bismarck! Dagegen andrerseits königlich preußische Regierungsunterstützung von Kooperativgesellschaften (…) ist als ökonomische Maßregel Null, während zugleich dadurch das Vormundschaftssystem ausgedehnt, ein Teil der Arbeiterklasse bestochen und die Bewegung entmannt wird. (…) Die Arbeiterklasse ist revolutionär oder sie ist nichts.«

Schweitzer blieb jedoch beim lassalleanischen Standpunkt. Vier Tage später antwortete er: In theoretischen Fragen lasse er sich gerne von Marx belehren, »was aber die praktischen Fragen momentaner Taktik« angehe, so müsse man, »um diese Dinge zu beurteilen, (…) im Mittelpunkt der Bewegung stehen«. Wieder zwei Tage später bestätigte er seinen Kurs, indem er im Social-Demokrat den dritten Teil seines Aufsatzes über »Das Ministerium Bismarck« veröffentlichte. Darin unterstützte er dessen Kurs, die Nation kriegerisch von oben zu einen, in dem Glauben, als Dank für die Loyalität im Krieg – der gegen Dänemark war gerade abgeschlossen, der gegen Österreich stand kurz bevor – und für den Verzicht auf die Revolution das allgemeine Wahlrecht und die Produktivgenossenschaften zum Geschenk zu erhalten. Engels wandte sich daraufhin mit der Schrift »Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei« gegen Schweitzer.

Fünf Tage nach Schweitzers Bismarck-Lob erklärten Marx und Engels ihren Austritt aus der Redaktion des Social-Demokrat: Man habe auf das ihnen »mitgeteilte kurze Programm« vertraut, durchaus die »schwierige Stellung« berücksichtigt und »keine für den Meridian von Berlin unpassenden Ansprüche« erhoben, aber gefordert, »dass dem Ministerium und der feudal-absolutistischen Partei gegenüber eine wenigstens ebenso kühne Sprache geführt werde wie gegenüber den Fortschrittlern«. Dem Austritt schlossen sich auch Johann Philipp Becker und Georg Herwegh an. Der Ton zwischen den Lassalleanern und den Marx-Anhängern verschärfte sich.

Aufgrund dieser Differenzen organisierte sich die Liebknecht-Fraktion zunächst in der 1866 neugegründeten Sächsischen Volkspartei. Aus deren proletarischer Mehrheit und dem Vereinstag Deutscher Arbeitervereine sowie einigen ADAV-Dissidenten entstand schließlich Anfang August 1869 in Eisenach die SDAP als eine demokratisch-revolutionäre, sozialistische Klassenpartei, die sich zur »Internationale« bekannte. Ihre Zeitung wurde Der Volksstaat.

Eine tragende Figur wurde bald August Bebel, der neben Schweitzer, Liebknecht und drei weiteren Abgeordneten schon 1867 als erster Arbeitervertreter in ein deutsches Parlament, den Norddeutschen Reichstag, gewählt worden war. 1840 geboren, war er zwar kein 48er, näherte sich aber doch mehr und mehr Liebknecht und damit der »Tradition der Revolution von 1848« (Abendroth) an.

Der Fraktionenkampf wurde mit aller Härte ausgefochten. So warf Bebel Schweitzer vor, ein »preußischer Polizeimann« und »königlich-preußischer Hofsozialist« im Sold bürgerlicher oder feudaler Kreise zu sein. Fast 50 Jahre danach reflektierte er: »In diesem Kampfe wurde ein großer Teil unserer besten Kraft, unserer Zeit und unserer nie zu reichlichen Mittel verbraucht. Aber man hat sich schließlich in diesem Kampfe hüben und drüben zu voller Klarheit durchgerungen, und so wurde, was anfangs ein großer Verlust schien, ein Gewinn für die Bewegung.«

Die national-loyale Orientierung der Lassalleaner zeigte sich auch daran, dass der ADAV unter dem Eindruck einer ähnlichen Kriegsbegeisterung wie später die SPD im August 1914 am 21. Juli 1870 den Kriegskrediten für den von Preußen mit Bismarcks »Emser Depesche« provozierten französischen Angriffskrieg zustimmte, während sich Liebknecht und Bebel mit einem Bekenntnis zur IAA und gegen die »Säbel- und Klassenherrschaft« der Stimme enthielten, was die Lassalleaner als Vaterlandsverrat kritisierten. Erst nachdem der Krieg infolge der Entscheidungsschlacht von Sedan in einen Eroberungs- und Demütigungskrieg gegen die Republik Frankreich umgeschlagen war, stimmte der ADAV gemeinsam mit der SDAP gegen weitere Kriegskredite.

Staatsräson

Die Verantwortung im Sinne der Staatsräson war der Grund, warum Schweitzer und die Berliner sozialkonservativen Kreise sich gut verstanden und in der Volksvertretung regelmäßig kooperierten, während die Zusammenarbeit mit der SDAP spärlicher wurde. Im März 1871 ging der ADAV gestärkt aus der Reichstagswahl hervor: Von den 3,2 Prozent Stimmen, die Kandidaten beider Parteien erhielten, entfielen zwei Drittel auf die Lassalleaner.

Die Sozialkonservativen, darunter der Berliner Revue-Redakteur Rudolf Meyer, der mit Lassalle befreundete Ökonom Johann Karl Rodbertus und Bismarcks sozialpolitischer Geheimrat Hermann Wagener, wollten Bismarck zu einer Sozialreform von oben motivieren, um die seit der Pariser Kommune besonders gefürchtete und verabscheute Revolution von unten abzuwenden. Hierfür suchten sie die »national-sozialen« Lassalleaner gegen die Sozialdemokraten auszuspielen, die im Reichstag die Commune als Vorbild für ihren »Volksstaat« anpriesen.

Aber bald schon fühlte Schweitzer sich von Bismarck getäuscht. Am 23. November 1871 klagte er bei Rodbertus über »doppelte Coulissen«. Rodbertus wiederum bestätigte am selben Tag in einem Brief an Meyer: Mitunter sähe »es so aus, als ob man, während man mit den Arbeitern liebäugelt, sich doch nur auf die Bajonette zu stützen gedenkt«. Mache die Regierung so weiter, schrieb er Meyer wenige Tage später, könnten »die Socialdemokraten (…) sehr stolz das Haupt erheben«. Ende November sah Rodbertus endlich die Chance gekommen, die Verbindung zum ADAV zu stärken. Er riet Meyer, den Lassalleanern unter Verweis auf die guten Beziehungen zu Bismarck einen staatssozialistischen Weg zu unterbreiten. Meyer, der akribisch die gesamte europäische Arbeiterpresse auswertete, nahm daraufhin Kontakt zu Schweitzer auf.

Der Moment schien günstig, weil Bebel und Liebknecht für ihre öffentliche Unterstützung der Pariser Commune wegen Hochverrats vor Gericht standen; am 26. März 1872 wurden sie zu Haftstrafen von jeweils zwei Jahren verurteilt. Bebel bekam wegen »Majestätsbeleidigung« noch zusätzlich neun Monate. Zudem drohte mit der Verurteilung des Volksstaat-Redakteurs Adolf Hepner auch das SDAP-Organ in die Hände der Lassalleaner überzugehen. Dies befürchten auch Marx und Engels: »Die Parteibehörden« der SDAP, schrieb ein besorgter Engels an Friedrich Adolph Sorge, bestünden »augenblicklich aus lauter eingefleischten Lassalleanern«, die »Partei und Parteiblatt« auf den »allerplattesten Lassalleanismus« herabzwängen. »Die Leute wollen die Zeit, wo Liebknecht und Bebel sitzen, benutzen, um dies durchzusetzen (…). Der Sieg dieser Kerle wäre gleichbedeutend mit dem Verlust der Partei für uns – wenigstens für den Augenblick.«

An die Stelle des exilierten Hepners trat der junge Volksstaat-Redakteur Wilhelm Blos, mit dem Rudolf Meyer per Du war. Tatsächlich landete Blos bald auf dem rechten Flügel der Partei, befürwortete im Weltkrieg die Kriegskredite und endete schließlich als Ministerpräsident von Württemberg. Engels riet Bebel, sich nicht zu sehr auf den ADAV zu konzentrieren, schließlich seien ADAV und SDAP zusammen »immer noch eine sehr kleine Minorität der deutschen Arbeiterklasse«. Darum sei »die richtige Taktik in der Propaganda nicht die, dem Gegner hie und da einzelne Leute und Mitgliedschaften abspenstig zu machen, sondern auf die große noch teilnahmslose Masse zu wirken. Eine einzige neue Kraft, die man aus dem Rohen heraus selbst herangezogen hat, ist mehr wert als zehn Lassallesche Überläufer, die immer den Keim ihrer falschen Richtung mit in die Partei hineintragen«.

Die Übernahme der SDAP durch die Lassalleaner blieb indes aus. Und auch im ADAV kassierten die Lassalleaner aufgrund ihrer Kooperation mit den Sozialkonservativen eine Niederlage. Es wurde ruchbar, dass Schweitzer plane, im Bündnis mit Lassalles intimer Freundin, der Gräfin von Hatzfeldt, »die Arbeiterbewegung an die Sozial-Konservativen« zu verraten. Am 18. Juni 1872 wurden im ADAV-Organ Der neue Socialdemokrat schwere Anschuldigungen gegen Schweitzer erhoben: Dieser habe Meyers Berliner Revue nicht nur mit Material versorgt, sondern stehe auch in dessen Sold. Schweitzer hatte zuvor schon den ADAV-Vorsitz abgeben müssen, nun wurde er ganz ausgeschlossen.

Die Sozialkonservativen tobten. Meyer inszenierte sich in mehreren Schriften als »Verteidiger des echten, richtig verstandenen Lassalleanismus«. Die neue ADAV-Führung habe sich vom Geiste Lassalles abgewandt und schließe sich mit ihrer radikalen Politik von der Staatsgemeinschaft aus, hieß es: »Die Herren« vom ADAV seien »die letzten Trossknechte von Marx«. Engels frohlockte, endlich habe sich die Arbeiterbewegung »von den Fesseln des Lassalleanismus« emanzipiert.

Gemeinsam verfolgt

Schweitzers Scheitern bereitete den Boden für die Annäherung von ADAV und SDAP. Die Vereinigung in Gotha wurde zusätzlich durch externe Faktoren begünstigt. Schon mit der Nationengründung – die Marxisten setzten auf die demokratisch-großdeutsche Lösung mit Österreich, die Lassalleaner folgten Bismarck in die preußisch-kleindeutsche – war einer der wesentlichen Konfliktpunkte weggefallen. Außerdem stützte sich Bismarcks Herrschaft schon seit 1866 auf ein kapitalistisches Modernisierungsbündnis von Freikonservativen und Nationalliberalen, und der Kanzler verfolgte mit Beginn der großen Wirtschaftskrise ab 1873, die den Übergang zu Schutzzollpolitik, Aufrüstung und Imperialismus markiert, sowohl SDAP als auch ADAV.

Am Stadtgericht in Berlin herrschte seit dem 1. Januar 1874 der Erste Staatsanwalt Hermann Tessendorf, der die zahlreichen Gesetze, die eigens zur Bekämpfung der Sozialdemokratie geschaffen wurden oder noch vom Kampf gegen den Liberalismus herrührten, nutzte, um der wachsenden »Gefahr« – der ADAV hat bei der Reichstagswahl am 10. Januar in Berlin 27,4 Prozent der Stimmen erhalten – zu begegnen. Für ADAV und SDAP gilt, was der Historiker Axel Kuhn schreibt: »Der Kampf gegen das gemeinsame Schicksal trug mehr als andere Faktoren dazu bei, die feindlichen Geschwister zu versöhnen.« Die Strategie der Unterdrückung führte, wie von den Sozialkonservativen vorhergesagt, zur Radikalisierung.

Dass die Vereinigung unter marxistisch-revolutionären Vorzeichen stattfand, dazu trug schließlich auch die Reichstagswahl bei. Sie schaffte neue Kräfteverhältnisse. Die SDAP erzielte 340.000 Stimmen und erhöhte die Zahl ihrer Sitze von zwei auf sechs. Die Sozialdemokraten verfügten damit im Verhältnis zum ADAV über die doppelte Anzahl an Abgeordneten. Auch war die Wahl selbst Ausdruck der Annäherung: Denn beide Parteien verzichteten in mehreren Wahlkreisen auf Konkurrenzkandidaturen. »Das Wahlergebnis« gab, schreibt Kuhn, »denen Recht, die sich von einem Zusammenschluss eine Stärkung« versprachen.

Dieser erfolgt vom 22. bis 27. Mai 1875 auf dem Parteitag in Gotha. Der sozialkonservative Versuch, die junge Arbeiterbewegung zu kooptieren, war damit gescheitert. Allerdings blieb der Lassalleanismus in der Partei erhalten. Schon zum Parteitag notierte Marx gegen die vielen Konzessionen an den Lassalleanismus seine »Kritik des Gothaer Programms«. Engels brachte sie erst nach seinem Tod zur Veröffentlichung, als mit Eduard Bernstein, dem Herausgeber der Schriften Lassalles, die idealistische Staatsauffassung wieder fröhliche Urständ feierte und die erneute Spaltung von 1914 vorwegnahm.

Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt am 3. Mai 2025 über den Kampf der US-Regierung unter Donald Trump gegen die Wissenschaftsfreiheit: Kultur der Angst.

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  • Leserbrief von Doris Prato (23. Mai 2025 um 10:55 Uhr)
    In ihrer Haltung zu der in Gotha entstandenen Partei gingen Marx und Engels nicht davon aus, an ihrer Stelle eine neue, von revisionistischen Einflüssen freie revolutionäre Arbeiterpartei zu schaffen, sondern sie kämpften darum, »die richtige politische Linie in der deutschen sozialdemokratischen Partei« durchzusetzen. Trotz der opportunistischen Auswüchse des Gothaer Programms stellten sie in den Vordergrund ihrer Wertung die Bedeutung der Herstellung einer einheitlichen Arbeiterpartei. Durch ihr energisches Auftreten gelang es in dieser Periode, die Opportunisten in der Partei zurückzudrängen und zu erreichen, dass das praktische Auftreten der Partei durch revolutionäre Aktionen bestimmt wurde. Sie kämpfte erfolgreich gegen das Sozialistengesetz und fand den richtigen Weg zu den Massen (Kritik des Gothaer Programms, MEW, Bd.19, Berlin/DDR 1962, S. 15 bis 32). Das sollte die Frage aufwerfen, ob man sich heute, bevor man sich trennt, schon alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, opportunistische Erscheinungen zu überwinden.

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