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Aus: Ausgabe vom 22.05.2025, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Abkommen

Bilaterales »Alles oder nichts«

Verhandlungen zwischen EU und Schweiz: Vorschlag liegt auf dem Tisch, Reizthemen wie »Marktzugang« und Migration bleiben
Von Dominic Iten
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Schöne Aussichten: Eidgenossen, die demonstrativ auf Koexistenz statt Neutralität setzen (Zürich, 6.10.2022)

Die Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz waren 2021 gescheitert. Seitdem pocht Brüssel auf ein »Alles-oder-nichts-Paket«. Erst nach Abschluss eines solchen würden Fragen zu Energiepolitik, Forschungsmitteln, Beschäftigtenrechten und Zuwanderung geklärt. Vorläufiges Resultat des neuerlichen Verhandlungsprozesses sind die sogenannten Bilateralen III, ein breit geschnürtes Paket, das für jede Interessengruppe Reizthemen bereithält.

Die rechte SVP sieht »fremde Richter« am Werk und prophezeit eine »maßlose Zuwanderung«, die wirtschaftsliberale FDP warnt vor dem Verlust des Zugangs zum EU-Binnenmarkt, Gewerkschaften fürchten den Abbau des Lohnschutzes – entsprechend zäh liefen die Gespräche. Doch nach jahrelangem Hin und Her kommt jetzt Bewegung in die Sache, berichtete der SRF am vergangenen Sonnabend. Ein konkreter Vorschlag liegt auf dem Tisch.

Wurde auch Zeit: Unter dem Eindruck sich verschärfender Krisen und geopolitischer Verschiebungen ist die Schweizer Regierung um die rasche Beseitigung außenpolitischer Unsicherheiten bemüht. Doch die »Kompassinitiative« droht die Pläne des Bundesrates zu durchkreuzen. SVP-nahe Kreise fordern die Einführung des sogenannten Ständemehrs für die Annahme völkerrechtlicher Verträge mit wichtigen rechtssetzenden Bestimmungen. Das Ständemehr ist eine doppelte Mehrheit, die neben der Mehrheit der Stimmenden (Volksmehr) bei bestimmten Abstimmungen auch die Mehrheit der Kantone (Ständemehr) verlangt. Damit hätten die »Bilateralen III« an der Urne eine deutlich höhere Hürde zu nehmen, weil die Stände in der Regel konservativer stimmen als der Bund.

Deshalb sieht sich die Regierung gezwungen, dem Volk eine Beruhigungspille zu geben. Der sozialdemokratische Justizminister Beat Jans schlägt eine Schutzklausel betreffend Zuwanderung vor, um in der breiten Bevölkerung die Akzeptanz für das Vertragspaket zu erhöhen. Der Bundesrat will in den Bereichen Zuwanderung, Grenzgänger, Arbeitslosigkeit und Sozialhilfequote Schwellenwerte festlegen. Werden diese überschritten, soll die Zahl der Zuwanderer beschränkt werden.

Bürgerliche Kräfte bezeichnen die Klausel als »Papiertiger«, die SVP betont, der Bundesrat wolle die Bevölkerung einlullen – und tatsächlich darf die direkte Wirksamkeit der Klausel bezweifelt werden. Vor ihrer Aktivierung hätte sie einen längeren Prozess zu durchlaufen, »Sozialpartner«, parlamentarische Kommissionen und Kantone würden konsultiert. Selbst Beat Jans gesteht, dass die Aktivierung der Klausel »nie einfach« sein werde.

Und mit der Überwindung der innenpolitischen Hürden wäre es nicht getan: Die vorgeschlagenen Maßnahmen würden anschließend einem Ausschuss vorgelegt, der sich gleichermaßen aus Vertretern der Schweiz und der EU zusammensetzt. Bei Uneinigkeit entscheide ein Schiedsgericht. Abhängig von dessen Urteil wären der EU gleichwertige oder gar Gegenmaßnahmen erlaubt, die nicht mehr in direktem Zusammenhang mit der Zuwanderung stehen.

Die Schutzklausel ist also mehr Placebo als Politik – allerdings mit Nebenwirkungen: Sie verschiebt den Fokus von den tatsächlichen Ursachen von Wohnungsknappheit, Lohneinbußen oder Pflegenotstand auf die vermeintliche »Flut« von Migranten und spielt so die Arbeiterinnen und Arbeiter gegeneinander aus.

Die SP ist unter dem Eindruck von Putins Kriegshandlungen und Trumps autoritärem Gehabe für europäische und inländische Fehlentwicklungen derart blind geworden, dass sie den Vorschlag ihres Bundesrats euphorisch bejubelt. Sie begrüßt das »umfassende Paket zur Stabilisierung der Beziehungen zur EU«, es handle sich um einen Schritt, »der angesichts der aktuellen internationalen Lage um so bedeutsamer« sei.

Dabei könnte Jans mit den Worten, die er zur Unterbreitung seines Vorschlags wählt, kaum deutlicher machen, dass er sich rechte Narrative und Lösungsvorschläge angeeignet hat. Die Schutzklausel sei »so etwas wie die letzte Verteidigungslinie«, meint der Justizminister. Sie sei »der Feuerlöscher an der Wand«, um den man froh sei, wenn es brenne.

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