Rotlicht: Befreiung
Von Kai Köhler
Unzweifelhaft hat »Befreiung« mit »Freiheit« zu tun. Dabei ist »Freiheit« der vielschichtigere Begriff. Er kann Freiheit von etwas bedeuten: von einer Sorge zum Beispiel oder einem Zwang. Ebenso meint »Freiheit« die Freiheit zu etwas: die tatsächliche Möglichkeit, etwas zu tun, was materielle Voraussetzungen hat. Komplizierter noch wird es dadurch, dass mindestens in den bisher bekannten Gesellschaften diese Freiheit zu etwas durch Freiheitseinschränkungen bedingt ist. Man ginge ungern auf die Straße, wenn dort jeder Übellaunige einem ein Messer in die Rippen stoßen dürfte. »Befreiung« ist verglichen damit eingeschränkt. Der Begriff meint nur, dass eine Sorge, ein Zwang oder eine Diktatur beseitigt wird. Ein positiver Inhalt – Befreiung zu was? – ist zunächst damit nicht verbunden. Dieser Mangel kann fatale Folgen haben.
In der DDR gab es offiziell keinen Zweifel, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war. Nach der heute herrschenden Lehre gehört das zum »verordneten Antifaschismus«, unter dem der Zonenbewohner gelitten habe. Nun könnte man einwenden, dass es besser ist, Antifaschismus zu verordnen als NATO-Treue, und dass Antifaschismus für viele DDR-Bürger Herzenssache war. In den neuen Bundesländern wählen weniger die 70jährigen AfD als die 20jährigen, was auf den bestimmenden Einfluss von Nachwendeerfahrungen hindeutet. Wahr aber ist immerhin: Befreiung war 1945 die Erfahrung von Kommunisten, Sozialdemokraten, bürgerlichen Antifaschisten oder von Leuten, die einfach froh übers Kriegsende waren. Als politische Parole war sie in der DDR ein Angebot auch an die leider zahlreichen anderen, beim Aufbau des Sozialismus mitzumachen.
In der BRD war nur die politische Führung ausgewechselt worden. Die ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Grundlagen des deutschen Imperialismus blieben unangetastet und sind es weitgehend bis heute. Insofern war es ehrlich, 1945 als Niederlage zu begreifen. Ab den späten 1950er Jahren begann zwar dieser erzwungene Konsens zu bröckeln, und die fortschrittlichsten Kräfte benannten sogar die Kapitalisten, die hinter dem Faschismus gestanden hatten. Doch rief noch die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes Widerspruch hervor. Es hieß dort: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.« Die Rede war einerseits ein Fortschritt, zugleich aber bot Weizsäcker eine modernisierte Nationalideologie an, die in den folgenden Jahrzehnten hegemonial wurde. Wenn wir alle befreit wurden, fragt sich, wer denn eigentlich die Gewaltherrschaft ausgeübt hat.
Die Rede ist zwar differenzierter als nur zwei Sätze andeuten. Von den Opfergruppen, die sowjetischen Toten eingeschlossen, ist ebenso die Rede wie von Schuld und Verantwortung. Vom Kapital schwieg freilich Weizsäcker ebenso wie davon, welchen politischen und ökonomischen Zwecken die Gewalt diente. Dies erwies sich als Erfolgsrezept. Mehr und mehr inszenierte sich Deutschland als Modellfall einer »Vergangenheitsbewältigung« (ein Begriff, vor dem Weizsäcker immerhin noch warnte). In einem zweiten Schritt, dessen Möglichkeit sich erst 1989 abzeichnete, dient dies der Legitimation, den je aktuellen »Hitler« in ausgewählten Feindstaaten zu züchtigen.
Wegen Auschwitz 1999 Jugoslawien zu bombardieren, heute jede Berücksichtigung russischer Sicherheitsinteressen mit Hinweis auf München 1938 als »Appeasement« abzutun, das nur um so sicherer zum nächsten Krieg führe: Der Trick besteht darin, den Rückgriff auf die angeblich aufgearbeitete deutsche Vergangenheit als moralische Rechtfertigung des nächsten Versuchs zu nutzen, gen Osten vorzustoßen. Das ist so dreist, dass es fast schon wieder Bewunderung abnötigt. Linke in Deutschland heute sollten dagegen benennen, wer 1945 befreit wurde und wer – leider nur vorläufig – gescheitert ist. Daraus ergibt sich, welche Befreiung weiterhin nötig ist, und von wem, damit sich ernsthaft über Freiheit reden lässt.
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