Standards
Von Peter MergFür Leute, die keinen besonderen Genuss aus dem Verfolgen einer kulturindustriellen Quatschveranstaltung wie dem Eurovision Song Contest (ESC) ziehen, ist es bisweilen etwas befremdlich, mit welchem Ernst die Kulturkämpfe um Teilnahme und Nichtteilnahme geführt werden. Aber nun gut, Fun ist schließlich ein Stahlbad, wie Adorno wusste, das färbt ab. Die Bemühungen propalästinensischer Gruppen, eine israelische Beteiligung wegen des Mordens in Gaza zu verhindern, waren beim 69. ESC nicht von Erfolg gekrönt. Sängerin Yuval Raphael, Überlebende des Massakers auf dem Supernova-Festival, räumte im Zuschauervoting ab, die 297 Punkte katapultierten sie auf Platz zwei, von der Jury hatte es nur 60 gegeben. Das Missverhältnis brachte noch am Abend die teilnehmenden Sendeanstalten aus Spanien und Belgien in Harnisch. Der staatliche spanische RTVE beantragte eine Überprüfung des Zuschauervotings. Der belgische öffentlich-rechtliche Sender VRT stellte in Frage, ob man künftig teilnehmen werde. Die spanische Vertreterin Melody hatte es nur auf einen blamablen 24. Platz, Red Sebastian aus Belgien nicht einmal ins Finale geschafft. Blanker Neid? Wahrscheinlich auch eine Reaktion auf die verständlicherweise höchst israelkritische öffentliche Meinung in beiden Ländern.
Nur ist es einigermaßen unwahrscheinlich, dass tatsächlich am Abstimmungsmodus geschraubt wurde. Ein externes Unternehmen hatte die Gültigkeit der Stimmen bestätigt. Freilich hatte es im Netz eine proisraelische Kampagne gegeben. Und wenn auch die Durchführung der Abstimmung nicht ernstlich bezweifelt wird, die Diskussion über das Verfahren ist alt. Denn es ist prinzipiell möglich, pro Telefonanschluss und/oder Kreditkarte bis zu 20 zulässige Stimmen abzugeben. Zumal die abstimmenden und dafür zahlenden Menschen eines Landes keineswegs repräsentativ für dessen Öffentlichkeit sind. Kritischen Geistern aus Spanien oder Belgien wäre es ein Leichtes gewesen, andere Kandidaten nach oben zu voten – sofern sie das Politisierungsspielchen hätten mitmachen wollen.
Einen offenkundigen Widerspruch adressierte derweil der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez, der den nachträglichen Ausschluss Raphaels forderte: »Wir dürfen keine doppelten Standards in der Kultur zulassen«, sagte er. Niemand habe sich empört, als Russland wegen der Invasion in die Ukraine vom ESC ausgeschlossen wurde. »Dasselbe sollte auch für Israel gelten.« Und genau hier liegt der Hund begraben. Wer das hirnzersetzende Event unbedingt politisieren und die Teilnehmer für die Politik ihrer Regierungen haftbar machen möchte, darf keine Sonderregelungen fordern. Wer Belarus wegen Oppositionsunterdrückung und Russland wegen seines Einmarsches ausschließen will, muss auch Israel rausschmeißen – und sich wegen, sagen wir, Frankreich (Libyen), Großbritannien (Irak), der BRD (Jugoslawien) und der Ukraine (»Demokratie«) ebenfalls Gedanken machen. Wer das als unsinnig erkennt, könnte noch auf eine andere kluge Idee kommen: dass es auch echte politische Fragen gibt.
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