Der Liebende
Von Gisela Sonnenburg
Er hat das Ballett auf seine Art neu erfunden: Liebe, Freude, Leid und Tod ließ Juri Grigorowitsch mit seinem einzigartigen Stil expressiv auf der Bühne darstellen. Und nicht nur der im Tanz üblichen Sehnsucht, sondern auch dem Kampf verhalf er zu neuen körperlichen Metaphern. Am 19. Mai verstarb mit 98 Jahren der bedeutendste sowjetisch-russische Choreograph. Allerdings war er auch im hohen Alter nicht etwa im Ruhestand. Sondern: Ballettmeister für die Nachwuchsstars am Bolschoi-Ballett in Moskau, wo er von 1964 bis 1995 als künstlerischer Leiter und Chefchoreograph gewirkt hat. Er wurde in dieser Zeit einer der weltweit wichtigsten Künstler des vergangenen Jahrhunderts. Und: Er führte das Bolschoi zu einer neuen Blüte.
Geboren wurde er am 2. Januar 1927 als Sohn eines Buchhalters und einer Ballerina in Leningrad. Viele Familienmitglieder waren Artisten beim Zirkus, ein Onkel allerdings tanzte bei den von Paris aus berühmt gewordenen Ballets Russes. Auch Grigorowitsch arbeitete später, während des Kalten Kriegs, an der Seine, was seinen hohen Stellenwert und seine Funktion als kulturelles Aushängeschild der Sowjetunion zeigt: 1977 studierte er »Iwan der Schreckliche« in Paris ein, und 1978 erlebte seine Version von »Romeo und Julia« dort ihre Premiere. Markant ist deren Ende: Anders als die meisten Choreographen, die sich dem »Romeo«-Thema widmen, beendete Grigorowitsch seine Shakespeare-Adaption nicht schon mit dem Tod Julias, sondern erst mit der Versöhnung der Clans am Grab des jungen Titelpaares.
Seit 1990 kann man diese Aussöhnung politisch deuten, als vorübergehendes Ende der Feindschaft zwischen Ost und West. Unter dem Krieg mit der Ukraine litt Grigorowitsch im übrigen, zumal er von beiden Staaten Ehrungen in Form von Orden und Medaillen empfangen hatte. Grigorowitsch war ein Brückenbauer, ein Versöhnender, sogar ein stetig Liebender. Am meisten liebte er den Tanz, bezeichnete seine Berufung als »Liebesbeziehung« zum Ballett. Als Mann liebte er die Primaballerina Natalia Bessmertnowa, seine Ehefrau.
Nach ihrem Tod 2008 bat das Bolschoi den damals 81jährigen, in den Ballettsaal zurückzukehren. Fortan kümmerte sich der Schöpfer legendärer Ballette wie »Spartacus« und »Legende von der Liebe« um aufsteigende Stars. Er studierte mit ihnen neue Partien ein und pflegte das Repertoire. Sein Einfluss war jedoch nie auf Moskau begrenzt. Im Gegenteil: Bis tief in den Westen wirkten sein prägnanter Stil und seine ausdrucksstarken choreographischen Muster.
So finden sich in der »Dritten Sinfonie von Gustav Mahler« von John Neumeier (1975) Elemente der starken Kämpfer aus »Spartacus« (1968). Mit dem französischen Choreographen Maurice Béjart, der ebenfalls 1927 geboren wurde, aber schon 2007 starb, verbanden Grigorowitsch gegenseitige Impulse.
»Spartacus« gilt nach wie vor als wichtigstes Werk des Moskauer Tanztitans. Das Thema, eine an Verrat scheiternde Sklavenbefreiung, inspirierte Hollywood zu dem Filmklassiker gleichen Namens. Es kam nun nicht oft vor, dass ein russisches Ballett einen Hollywoodfilm zeitigte. Grigorowitsch aber, dessen Formensprache klassische und moderne Elemente mischte, widmete sich auch der Renovierung der Klassiker im Ballett. Sein »Dornröschen«, »Schwanensee« und »Nussknacker« werden noch heute am Bolschoi getanzt. Dem internationalen Publikum sind seine Stücke auch durch Liveübertragungen in Kinosäle bekannt, die es bis Februar 2022 gab. Zur vergangenen Jahreswende ersetzte ein kostenloser Livestream vom »Nussknacker« diese Bolschoi-Mission.
Grigorowitschs letztes persönliches Erscheinen in Deutschland ist auf den 22. Dezember 2017 datiert: Er wurde im Münchner Nationaltheater für seinen vom Bayerischen Staatsballett übernommenen »Spartacus« gefeiert. Insgesamt muss man allerdings beklagen, dass im Westen viel zu selten Choreographien von ihm eingekauft wurden. Während Russland begierig alle möglichen Novitäten im Ballettbereich aus Westeuropa und den USA zu sich holte, hielt sich der Westen gen Osten wenig vornehm zurück. So gesehen war sogar ein Grigorowitsch schon zu Lebzeiten ein Opfer ungerechter Sanktionen.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Archive 8/US Air Force18.03.2025
Die Jagd nach der Bombe
- VG Bild-Kunst 202421.12.2024
Der Mann in der Luft
- Werner Abel30.11.2024
Bild als Waffe
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
Rotlicht: Befreiung
vom 21.05.2025 -
Nachschlag: Framing
vom 21.05.2025 -
Vorschlag
vom 21.05.2025 -
Veranstaltungen
vom 21.05.2025 -
Alisch, Ebeling, Schirm
vom 21.05.2025 -
Die Einfalt der Vielfalt
vom 21.05.2025 -
Griff in Gottes Haufen
vom 21.05.2025 -
Merz Spezial Dragees
vom 21.05.2025 -
Standards
vom 21.05.2025