Vereinzelung
Von Helmut Höge
Wie ist die zunehmende Vereinzelung der Menschen, mindestens in den Industrieländern, zu erklären? Was sind ihre Ursachen? Darüber grübeln seit einigen Jahren die Medien und ganze sozialwissenschaftliche und sozialmedizinische Forschungsbereiche. Zuerst einmal: Was ist überhaupt »Vereinzelung«? »Vereinzelung beschreibt den Zustand, in dem eine Person sich von ihrem sozialen Umfeld getrennt oder ausgeschlossen fühlt. Es bedeutet, dass Kontakte und Beziehungen zu anderen Menschen reduziert sind oder ganz fehlen. Diese Isolation kann unfreiwillig entstehen und zu Gefühlen wie Einsamkeit, Hilflosigkeit und sozialer Entfremdung führen. Vereinzelung kann sowohl kurzfristig als auch langfristig auftreten und die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Im Kern steht der Verlust der Zugehörigkeit und des Austauschs mit anderen.« So heißt es auf »wortbedeutung.info«.
Die ersten Erklärungsversuche dafür, warum so etwas geschieht, gingen noch davon aus, dass besonders alte Menschen unter Vereinzelung leiden, weil ihre Lebensgefährten gestorben sind, die Kinder zu weit weg wohnen und auch ihr übriges soziales Umfeld sich immer mehr reduziert hat. Hinzu kamen dann die von Arbeitslosigkeit Betroffenen, Behinderte, Ausländer und alleinerziehende Mütter. Bei den von Vereinzelung Heimgesuchten führte das unter Umständen zu emotionalem Stress, Depressionen, Alkohol- und Tablettensucht, Kauf- und Esssucht, übermäßigem TV-Konsum, Schlaflosigkeit etc. …
Linke klagen über die nachlassende Bereitschaft, sich zu organisieren, zusammenzukommen, sich gegen die Vereinzelung zu wehren. Konservative Beobachter betonen die nachlassende Bindungskraft der Kirchen, die Mietskasernen, in denen man keine Nachbarschaft mehr kennt, und die Abwehr von jeglicher Autorität. Andere meinen dagegen, dass die zunehmende Vereinzelung gerade zur Bindung an fragwürdige Autoritäten führt.
Der Spiegel schrieb 2019: »Links Vereinzelung, rechts Schulterschluss? Francis Fukuyama zeigt in seinem neuen Buch auf, wie Identitätspolitik die Gesellschaft spaltet. Riskante Tiefenbohrung in die Seele der Demokratie.« Das Thema Vereinsamung wurde vor allem während der Coronapandemie und der Lockdowns diskutiert.
Es betrifft zum Beispiel massenhaft Fabrikarbeiter, die aus ihren Brigaden entlassen wurden und nun Fahrradboten oder motorisierte Auslieferer sind. Aber auch, wenn sie sich mit einem »Spätkauf« oder einem anderen kleinen Geschäft selbständig machen, wo sie den ganzen Tag hinter dem Tresen dösen und auf Kundschaft warten, mit denen sie vielleicht jedes Mal nicht mehr als drei Worte wechseln, die sich fast immer nur auf den Kaufgegenstand beziehen. Eine Meldung aus Japan erschreckte uns besonders: Dort sind ältere, alleinlebende Männer derart vereinsamt, dass sie eine Straftat begehen, um ins Gefängnis zu kommen, wo sie endlich Gesprächspartner finden.
Und kommt jetzt noch »KI« dazu? Der Deutschlandfunk fragte: »Wie verändert künstliche Intelligenz unser Leben? Wie steht es mit dem Problem der Vereinzelung und Vereinsamung in digitalen Welten? Um solche Zukunftsfragen ging es in ›How to Make a Paradise‹.« Dabei handelte es sich 2020 um eine Ausstellung des Frankfurter Kunstvereins: »How to Make a Paradise – Sehnsucht und Abhängigkeit in generierten Welten« Die beteiligten Künstler haben dabei wohl am wenigsten an die »Einkaufsparadiese« gedacht, das heißt an die Supermärkte, die wir alle bei unseren Einkäufen von Dingen des täglichen Bedarfs aufsuchen (müssen). Dort haben die Konzerne (Aldi Süd und Nord, Kaufland/Lidl, Otto Group, Oetker, Tchibo etc., deren Besitzer nebenbei bemerkt zu den reichsten Deutschen gehören) sich jedoch etwas Schreckliches einfallen lassen: An den Eingängen ihrer Märkte ließen sie zum »Check-In« sogenannte Vereinzelungsanlagen in Form von Drehkreuzen aus Stahl oder ganzen Drehtüren installieren. Hinzu kommt nun auch noch an den Ausgängen die Reduzierung der Supermarktkassiererinnen durch »Selfcheckout-Kassen« – und bald die vollständige Ersetzung der Zahlung mit Bargeld durch Kreditkarten.
Von »Vereinzelungsanlagen« kann man auch sprechen, wenn es sich um menschliche Durchlasskontrolleure handelt – etwa um Türstehern vor Klubs, bei Konzert- und Fußballveranstaltungen, auf Flughäfen, bei den Ausländerbehörden, bei manchen Arbeitsämtern, an Freibädern, bei Verkehrskontrollen, vor Kasernen, Konzernen, Bankzentralen, in Regierungsgebäuden etc. Sie alle bestehen auf Vereinzelung beim Durchlassgewähren.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Wolfgang S. aus Berlin-Mariendorf (20. Mai 2025 um 12:33 Uhr)Vereinzelung ist eine gezielt wirkende Strategie im kapitalistischen System unserer Tage. – Du bist wichtig. Du bist etwas Besonderes. Du hast Verantwortung. Du kannst alleine entscheiden. Hebe dich ab von anderen. – Also alles gegen das Kollektiv, gegen das Zusammensein, gegen das Einordnen im Kollektiv. Jeder ist sich selbst der Nächste. Es gilt das Faustrecht. Alles ist auf das Individuelle, das Individuum ausgerichtet. Ziel ist: Wenig Demo- und Streikbeteiligung. Gehe keinem individuellen Streit aus dem Wege. Studiere Jura. Das ist ein prosperierender, zukunftsträchtiger Berufszweig. So verhindert das Establishment Klassenkampf von unten.
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