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Aus: Ausgabe vom 20.05.2025, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Atomkraft in Belgien

Ausstieg aus dem Atomausstieg

Rollback der Kernenergie in Belgien. Alte und neue Reaktoren sollen ans Netz
Von Gerrit Hoekman
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Rolle rückwärts in Brüssel: Am World Yoga Day vor dem Atomium-Gebäude

Belgien setzt wieder voll auf Kernkraft. Am vergangenen Donnerstag kippte das Parlament mit großer Mehrheit den Ausstieg, den es 2003 beschlossen hatte und der 2025 abgeschlossen sein sollte. Nun ist auch der Bau neuer Meiler möglich. Theoretisch könnten sogar die drei bereits stillgelegten Reaktoren in Doel in der Nähe von Antwerpen und Tihange in Huy an der Maas wieder hochgefahren werden. Im Moment laufen noch vier Blöcke. Nur die flämischen und wallonischen Grünen stimmten im Parlament dagegen. Die marxistische PTB/PVDA und die wallonischen Sozialdemokraten enthielten sich.

»Es geht nicht mehr darum, Energiequellen binär und steril gegeneinander auszuspielen, sondern sie pragmatisch und komplementär zu nutzen«, zitierte die flämische Tageszeitung Gazet van Antwerpen am Donnerstag online Energieminister Mathieu Bihet. Bereits die vorherige Regierung hatte im Zuge des Ukraine-Kriegs den Atomausstieg bereits verwässert, indem sie die Laufzeit für Doel 4 und Tihange 3 um zehn Jahre bis 2035 verlängerte.

Es wird aber noch Jahre dauern, bis neue AKW ans Netz gehen könnten. Ob sich das finanziell klamme Belgien moderne Reaktoren überhaupt leisten kann, sei dahingestellt. Deshalb hofft die Regierung für die uralten Meiler Doel 1 und 2, die in diesem Jahr vom Netz gehen sollten, eine Laufzeitverlängerung bis 2045 zu erreichen. Dazu ist ein neuer Vertrag mit der Betreibergesellschaft Engie nötig. »Die Chance, dass Engie eine Verlängerung in Betracht zieht, ist gering und die alten Reaktoren müssen strenge Sicherheitsanforderungen erfüllen«, kommentierte der öffentlich-rechtliche Sender VRT Nws am Donnerstag. Das war Engie bis jetzt zu teuer.

Das belgische Nuclear Forum, die Lobbyorganisation der Atomkraftbranche, zeigt sich trotzdem hocherfreut. Der Parlamentsbeschluss sei ein »historischer Meilenstein«, hieß es der Gazet van Antwerpen zufolge in einer Pressemitteilung. »Endlich senden wir als Belgien, ein Land mit enormem Know-how im Nuklearbereich, dem Rest der Welt ein Signal, dass wir die Energiepolitik und die Herausforderungen des Klimawandels wieder rational betrachten, indem wir die Kernenergie nicht länger ideologisch als Teil der Lösung ausschließen.«

Die belgischen AKW gehören zu den ältesten und anfälligsten in Europa. In den Betonmänteln entdeckten Kon­trolleure bereits vor Jahren Haarrisse. Immer wieder mussten die Reaktoren zeitweise abgeschaltet werden. Im Januar fuhr mal wieder der Rumpelreaktor Tihange 1 unerwartet runter. Im nichtnuklearen Bereich des Kraftwerks versagten zwei Umwälzpumpen den Dienst. Nach drei Tagen konnte Tihange 1 wieder Strom erzeugen. Der Reaktor sollte eigentlich am 1. Oktober 2025 endgültig stillgelegt werden. Er hat dann genau 50 Jahre auf dem Buckel.

Das sorgt für keine Freude in den Nachbarstaaten. Tihange liegt nur wenige Kilometer von der deutschen und niederländischen Grenze entfernt. Aachens grüne Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen bedauere die Entscheidung des belgischen Parlaments, berichtete der WDR am Freitag. In Belgien halten das manche für Heuchelei. Immerhin bläst das Braunkohlekraftwerk Weisweiler in weniger als 60 Kilometer Entfernung von Liège noch bis 2029 Dreck in die Luft.

Bundesumweltminister Carsten Schneider (SPD) hält laut dpa unterdessen am Ausstieg aus der Atomenergie fest: »Andere Länder sind natürlich frei in dem, was sie tun. Die Belgier sind autonom, die müssen das entscheiden.« Bis 2030 würden in Deutschland 80 Prozent des Strombedarfs durch erneuerbare Energie gedeckt werden. Der sei auf lange Sicht auch billiger als der Bau neuer AKW.

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