»Akuttherapie« gegen Kollaps
Von Ralf Wurzbacher
Angesichts der akuten Finanznöte der Krankenkassen dringt ihre führende Funktionärin auf ein Ausgabenmoratorium. Soll heißen: »Keine Preis- oder Honorarerhöhungen mehr, die über die laufenden Einnahmen hinausgehen«, sagte die Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Doris Pfeiffer, der Rheinischen Post (RP) vom Montag. Es brauche jetzt eine »Akuttherapie«, andernfalls gingen zum nächsten Jahreswechsel die Beiträge »durch die Decke«. Auch die neue Regierung weiß um den Ernst der Lage. In der Vorwoche hatte Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) im Bundestag »kurzfristige Maßnahmen« angekündigt. Bis zur Vorlage von Ergebnissen der Kommission, die die Koalition zum Thema einberufen will, könne man jedenfalls nicht warten. Das Gremium will seine Vorschläge erst 2027 unterbreiten.
Für die kurzfristige Stabilität des Systems und zum Schutz der Beitragszahler brauche es noch vor der Sommerpause ein »Vorschaltgesetz«, das für sämtliche Leistungsbereiche neuerliche Kostensteigerungen unterbinden soll, empfahl Pfeiffer. »Allein in den letzten drei Monaten gab es acht neue Beitragssatzerhöhungen«, beklagte die Verbandschefin. Das Instrument müsse so lange greifen, bis durch geeignete Strukturreformen Einnahmen und Ausgaben wieder in ein Gleichgewicht gebracht worden seien. Das Jahr 2024 hatten die öffentlichen Kassen mit einem Minus von 6,2 Milliarden Euro abgeschlossen. In der Konsequenz wurden die Versicherten zum Jahreswechsel mit hohen Aufschlägen bedacht. In dem Stil dürfte es weitergehen. Der GKV-Schätzerkreis rechnet mit einem Kostenplus von 6,8 Prozent im laufenden Jahr. Ein Faktor dabei ist die »große Krankenhausreform«. Die Hinterlassenschaft von Exminister Karl Lauterbach (SPD) wird hälftig durch die Versicherten finanziert, was jährlich mit 2,5 Milliarden Euro extra zu Buche schlägt.
Seine Amtsnachfolgerin Warken hatte sich bereits vor acht Tagen mit Finanzressortleiter Lars Klingbeil (SPD) darauf verständigt, einen Bundeszuschuss in Höhe von 800 Millionen Euro zur Sicherung der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds vorfristig auszuschütten. Aber auch das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Am Sonnabend stellte sie ein zusätzliches Notpaket in Aussicht, »um Beitragssatzerhöhungen möglichst zu vermeiden«. Am Wochenende dann signalisierte Klingbeil grünes Licht für weitere Bundesmittel in nicht beziffertem Umfang, um Kranken- und Pflegekassen zu stützen.
Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes vom Donnerstag verzeichneten (teil-)stationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen im Jahr 2023 einen Kostenzuwachs um 6,3 Prozent gegenüber dem Jahr davor. Bei der häuslichen, aus privater Kasse finanzierten Pflege machten die Kosten einen Satz von 8,3 Prozent auf 21,6 Milliarden Euro, was einer Verdreifachung innerhalb von zehn Jahren entspricht. Die Bundestagsfraktion Die Linke sprach hernach von einem »Skandal«. Zwei Drittel der 5,7 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland würden von Angehörigen versorgt, gab Gesundheitspolitikerin Evelyn Schötz per Medienmitteilung zu bedenken. »Doch echte Unterstützung gibt es kaum« – nur rund 407.000 Menschen oder acht Prozent der Betroffenen erhielten Hilfe zur Pflege. Die Versorgung werde »zunehmend privatisiert«, die Belastungen würden größer, »aber der Staat zieht sich zurück«, so Schötz.
Immerhin hat Ministerin Warken den Hang zur Selbstbedienung des Bundes an den Beitragstöpfen thematisiert. Konkret verwies sie auf zehn Milliarden Euro zur Deckung der Gesundheitskosten von Bürgergeldempfängern sowie sechs Milliarden Euro aus Zeiten der Coronakrise. Bei den Koalitionsverhandlungen wurde über den fälligen Ausgleich beraten, in der Endfassung ging der Punkt aber »verschütt«. Der Sozialverband VdK hatte in einem zu Jahresbeginn vorgelegten Gutachten errechnet, dass die Kranken- und Pflegekassen zusammen versicherungsfremde Leistungen in Höhe von jährlich fast 50 Milliarden Euro schultern. Eigentlich geht es dabei um gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die aus Steuern finanziert werden müssten.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (20. Mai 2025 um 06:10 Uhr)Über 90 gesetzliche Krankenkassen leistet sich das Gesundheitssystem – mit über 90 Vorständen, über 90 mehr oder minder stark ausgebauten Strukturen. Alles wird aus den Beiträgen der Menschen finanziert (und den Bundeszuschüssen). Alles in eine Sozialversicherung (oder es gibt ja auch die Vokabel Bürgerversicherung) zu überführen, würde diesen Sektor der allgemeinen Vorsorge sicher spürbar entlasten. Dazu kommt, dass in den Krankenhäusern und Arztpraxen die Abrechnerei sich deutlich vereinfachen würde. Womit sicher etliche Fachkräfte von fachfremden Leistungen entlastet werden würden. Oder mache ich nur eine »Milchmädchenrechnung«? Für mich ist das eher gesunder Menschenverstand. Denn es gibt ja nur noch marginalen Wettbewerb zwischen den Kassen. Der finanzierbare Leistungsumfang ist vorgegeben, und die freiwilligen Leistungen der Kassen unterscheiden sich nicht großartig. Hier wäre meines Erachtens ein Ansatz, um den eh schon gebeutelten Beitragszahlern weitere Erhöhungen zu ersparen. Und wenn dann noch alle, aber wirklich auch alle, in dieses System einzahlen, wäre dann nicht das Thema Beitragserhöhung vom Tisch? Als positiver Nebeneffekt wäre auch die Zweiklassenmedizin Geschichte …
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