Nächster Zankapfel Belutschistan
Von Thomas Berger
Es kommt einem Paukenschlag gleich: Am Mittwoch hat der Aktivist Mir Yar Baloch die Unabhängigkeit Belutschistans ausgerufen. Seit vielen Jahren ist das Gebiet, das mehr als ein Drittel des Staatsgebiets Pakistans ausmacht und im Südwesten an der Grenze zu Iran liegt, in Pakistans Augen ein Unruheherd. Bisher ist international selten davon Notiz genommen worden. Doch Mir Yar Baloch hat nicht nur UN-Truppen an-, sondern explizit auch Indien aufgefordert, die »Freie Republik Belutschistan« anzuerkennen – und um Genehmigung einer ersten Botschaft in Neu-Delhi gebeten. In einem weiteren Post unterstützte er die Forderung Indiens, Pakistan solle Kaschmir räumen. Damit platzt das Thema in die angespannte Ruhe nach dem erneuten Ausbruch des Konflikts zwischen Indien und seinem Nachbarland.
Erst am Wochenende hatten die beiden Atommächte nach gegenseitigen Angriffen einen Waffenruhe ausgerufen. Auslöser für die jüngste Eskalation war ein Anschlag im indischen Teil Kaschmirs am 22. April. Jede von Pakistan als Unterstützung von Separatisten auslegbare Aktion Indiens bezüglich der »Unabhängigkeitserklärung« bringt damit neuen Sprengstoff in den zwischenstaatlichen Konflikt und könnte die fragile Waffenruhe in Gefahr bringen. Zumal mit einer Unabhängigkeit ein großer und am Arabischen Meer strategisch gelegener Teil des pakistanischen Staatsgebiets verlorenginge.
Der Ruf nach Selbstbestimmung ist, wie Baloch in seinem Post auf X am Mittwoch gewissermaßen selbst einräumte, kein neuer: »Wir haben unsere Unabhängigkeit schon am 11. August 1947 erklärt, als die Briten Belutschistan und den gesamten Subkontinent verlassen haben.« Wie er bereits in einem früheren Interview gesagt habe, sei das der Grund, weshalb Belutschistan ohnehin nie rechtskräftig Teil des pakistanischen Staates gewesen sei. Tatsächlich ist dies eine Sichtweise, die der Schriftsteller und Aktivist mit vielen Angehörigen seiner Volksgruppe teilt. Die Belutschen fühlen sich schon seit langem von zentralstaatlichen Akteuren im fernen Islamabad unverstanden, ignoriert, unterdrückt und im Kampf um eigene Rechte betrogen, darunter Einnahmen aus der Rohstoffausbeutung.
Tatsächlich ist die Region ein ähnlicher Sonderfall wie der bekanntere Zankapfel Kaschmir: Der Fürstenstaat Kalat, der seit 1666 bestand und einen Teil des heutigen pakistanischen Belutschistans ausmacht, hatte sich unter der britischen Kolonialmacht ein so großes Selbstbestimmungsrecht wie nur wenige andere unterworfene Gebiete bewahrt. Der Khan von Kalat musste zwar, festgelegt im Vertrag von 1876, territoriale Verluste hinnehmen und das Gebiet um die heutige Regionalhauptstadt Quetta abtreten, machte aber 1947 von der den Fürsten offerierten »Ausstiegsklausel« Gebrauch, sich weder Indien noch Pakistan anschließen zu müssen.
Die Eigenständigkeit währte allerdings mit 227 Tagen nur kurz. Anfangs war sie sogar von Mohammed Ali Jinnah – der Khan hatte den »Vater der pakistanischen Unabhängigkeit« im Jahr zuvor zu seinem Berater gemacht – unterstützt worden. Kalat sollte mit den beiden anderen belutschischen Fürstentümern Kharan und Las Bela zu einem lebensfähigen Staatswesen in kultureller Einheit verschmolzen werden. Doch die beiden Letztgenannten schlossen sich dann doch Pakistan an, und die Armee marschierte nach kurzen Kämpfen im März 1948 auch in Kalat ein. Jinnah habe die Vereinbarung gebrochen, erinnerte zuletzt etwa das Magazin India Today 2023 in einem Beitrag. Seit 1947 wird der Landstrich regelmäßig von Gewalt erschüttert, in jüngster Zeit wieder verstärkt.
Am Mittwoch starb ein Mensch bei einem Anschlag, der offenbar einem Abgeordneten der Regionalversammlung gegolten hatte. Mitte März hatten in einer spektakulären Aktion Militante der Belutschistan-Befreiungsarmee (englische Abkürzung BLA) den Jaffar-Express mit 440 Passagieren zu entführen versucht – einen Zug, der die Regionalhauptstadt Quetta und Peschawar verbindet. 21 Zivilisten und vier Sicherheitskräfte starben bei der 30stündigen Belagerung.
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