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Aus: Ausgabe vom 15.05.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Ukraine-Krieg

Gipfel oder Getöse

Bis zuletzt blieb unklar, welches Format die russisch-ukrainischen Verhandlungen in Istanbul haben sollen. Selenskij will nur mit Putin reden. Der lässt offen, ob er kommt
Von Reinhard Lauterbach
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Wer wird da sein, wer nicht? Selenskij will in Istanbul auf Putin warten. Unwahrscheinlich, dass der kommt

Vor den vom russischen Staatschef Wladimir Putin auf diesen Donnerstag terminierten ukrainisch-russischen Gesprächen in Istanbul ist bis zuletzt nicht klar gewesen, ob sie überhaupt stattfinden. Putin ließ bis zum Mittwoch offen, ob er persönlich nach Istanbul reisen werde. Kremlsprecher Dmitri Peskow nannte die Namen von Außenminister Sergej Lawrow und dem Putin-Berater Dmitri Uschakow als Leiter der russischen Delegation. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij seinerseits hat Anfang der Woche erklärt, er werde nur mit Putin persönlich verhandeln, sonst mit niemandem. Am Dienstag relativierte er diesen Standpunkt dann und sagte der Pariser Zeitung Libération einerseits, nur die persönliche Entscheidung Putins könne bewirken, dass der Krieg ende, andererseits wolle er einen vollständigen Gefangenenaustausch und eine mindestens 30tägige Waffenruhe aushandeln. Davon hänge der politische Erfolg der Gespräche in Istanbul ab. Mit wem er dies tun wollte, wenn Putin nicht erscheinen sollte, ließ Selenskij aber offen. Ukrainische Politiker der zweiten Reihe und staatsnahe Medien dämpften die Erwartungen an ein eventuelles baldiges Kriegsende: Es gehe in Istanbul darum, »der Welt zu zeigen, wer Frieden will und wer nicht«. Mit anderen Worten: Kiew scheint eine Propagandaveranstaltung zu planen und keine Verhandlungen.

Wer kommt, wer nicht?

Auch auf russischer Seite gab es viel Skepsis. Vizeaußenminister Sergej Rjabkow äußerte Zweifel daran, ob die Ukraine verhandlungsbereit sei. Sie und ihre »westlichen Sponsoren« müssten dies am Gesprächstisch beweisen, so Rjabkow am Dienstag. Von seiten der »Sponsoren« engagieren sich im Umfeld der geplanten Gespräche vor allem die USA. Sie schicken Außenminister Marco Rubio sowie die beiden Sondergesandten Keith Kellogg und Steve Witkoff nach Istanbul. Damit hätten die USA eine formal mit den bestätigten russischen Teilnehmern gleichrangige Delegation vor Ort. Auch Präsident Donald Trump hat eine Teilnahme nicht ausgeschlossen, allerdings nur, falls auch Putin komme. Trump hielt sich am Mittwoch in Saudi-Arabien auf, könnte also innerhalb weniger Stunden zu den Gesprächen dazustoßen. Selenskij reiste schon am Dienstag in die Türkei, traf sich allerdings zunächst in Ankara mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Zwei wichtige Verbündete Russlands haben Putin derweil aufgefordert, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Chinas Staatschef Xi Jinping und der brasilianische Präsident Ignacio Lula da Silva riefen Putin am Rande eines China-Lateinamerika-Gipfels in Beijing dazu auf, den Ukrai­ne-Konflikt durch Gespräche beizulegen. Lula kündigte an, bei der Rückreise von China nach Brasilien einen Zwischenstopp in Moskau einzulegen, um Putin in letzter Minute von einer Teilnahme zu überzeugen.

Die Bundesregierung rechnet offenbar nicht mit einem Erfolg der Istanbuler Gespräche in absehbarer Zeit. Kanzler Friedrich Merz sagte am Dienstag im CDU-Wirtschaftsrat, der Krieg könne noch lange dauern. Aber es komme jetzt darauf an, dass »die Europäer« ein Zeichen setzten, dass sie »zusammenstehen« und »Amerika dabeihalten«. Der französische Präsident Emmanuel Macron forderte in einem Interview des französischen Fernsehsenders TF1, die EU müsse sich auf den Einsatz von »Stabilisierungstruppen« in der Ukraine vorbereiten. Es sei absehbar, dass Kiew nicht der NATO beitreten könne. Damit gab Macron ein wesentliches russisches Kriegsziel an. Folglich müssten »die Europäer« alternative Varianten von Sicherheitsgarantien vorlegen.

Wer schickt Soldaten?

Macron sagte, europäische Truppen würden nicht in der vordersten Front stationiert, sondern im ukrainischen Hinterland an strategischen Standorten. Dort solle ihre Anwesenheit abschreckend auf Russland wirken. Es gehe ihm mit seinem Vorschlag der Stabilisierungstruppe darum, die Ukraine zu unterstützen, ohne den Dritten Weltkrieg zu riskieren.

So hat denn Großbritannien die Absicht erkennen lassen, den Schwarzmeerhafen Odessa zu »sichern«. Macron signalisierte im übrigen, dass Frankreich der Ukraine keine weiteren größeren Waffenpakete mehr liefern könne: Es sei nichts mehr übrig, was Paris abgeben könne. Bisher ist allerdings unklar, welche EU-Länder sich an dieser Stabilisierungstruppe beteiligen wollen. Polens Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz wiederholte seine Aussage, dass Polen keine Truppen in die Ukraine entsenden, sondern nur sein Territorium für den Nachschub zur Verfügung stellen werde. Auch bei einer Fernsehdebatte der Präsidentschaftskandidaten in Polen am Montag abend hatte die überwiegende Mehrheit der Bewerber erklärt, sie würden keine polnischen Soldaten über die Ostgrenze des Landes schicken. Ausgerechnet die Vertreterin des Linksbündnisses, Magdalena Biejat, hatte dies allerdings nicht explizit ausgeschlossen. Außerhalb der Debatte hat Außenminister Radoslaw Sikorski schon vor einigen Tagen eine Entsendung polnischer Truppen in die Ukraine ausgeschlossen: Es solle vermieden werden, Russland ein Argument für den Vorwurf zu liefern, Polen wolle Teile der Ukraine annektieren.

Hintergrund: Hier ein Dorf, dort ein halbes

Russland hat nach dem Auslaufen der Waffenruhe zum Siegestag seinen Vormarsch in der Ostukraine wieder aufgenommen. Praktisch jeden Tag berichten ukrainische Militärs, dass sich an dem einen oder anderen Abschnitt die Lage für die Ukrainer verschlechtere, teilweise »dramatisch«. Vor allem haben russische Einheiten offenbar ihren Einbruch in die ukrainischen Linien zwischen den Städten Pokrowsk und Kostjantyniwka im nördlichen Donbass ausgeweitet. Die Straße zwischen beiden Städten wird inzwischen auf einem etwa zehn Kilometer langen Abschnitt von russischen Truppen kontrolliert. Am Dienstag meldeten dem ukrai­nischen Militär nahestehende Seiten, russische Stoßtrupps näherten sich einer wichtigen Straßenkreuzung südwestlich von Kostjantyniwka. Die Ukraine berichtete ihrerseits, sie habe mit Drohnen eine russische Gruppierung in Bataillonsstärke zwischen der Stadt Tokmak und der Front im Bezirk Saporischschja vernichtet.

Gleichzeitig verbreiten ukrainische Seiten Meldungen über einen angeblich unmittelbar bevorstehenden russischen Vorstoß auf das Nordufer des Dnipro oberhalb von Cherson. Russische Einheiten hätten in den letzten Tagen ohne großes Aufsehen einige Inseln im Fluss unterhalb des zerstörten Staudamms von Kachowka unter ihre Kontrolle gebracht. Ob diese Lage wirklich der Vorbote einer vollständigen Flussüberquerung bis hin zum Erobern eines Brückenkopfes auf dem ukrainisch kontrollierten Nordufer ist, bleibt offen. Vor allem das Halten eines solchen Brückenkopfes ist vom Standpunkt der Versorgung absehbar schwierig. Im Herbst 2022 hatte Russland daher seine Positionen am nördlichen Flussufer räumen müssen.

Die USA bekräftigten unterdessen ihre Absicht, das derzeit stilliegende AKW Saporischschja knapp oberhalb des Staudamms von Kachowka zu übernehmen, künftig zu betreiben und angeblich an beide Seiten Strom zu liefern. Diese Übernahme fügt sich ein in die Absichten, die Washington mit jener der Ukraine aufgenötigten Unterzeichnung des Rohstoffabkommens bekundet hatte. Es umfasst auch die Kontrolle US-amerikanischer Firmen über die ukrainische Energiewirtschaft. Russland hat diese Übernahme bisher immer ausgeschlossen. Das Rohstoffabkommen wurde vergangene Woche vom ukrainischen Parlament eher beiläufig mit 326 Stimmen ratifiziert. Das Parlament hat 450 Abgeordnete, Kritiker des Vertrags haben an der Sitzung offenbar nicht teilgenommen, Gegenstimmen wurden jedenfalls nicht registriert. In der Nacht zum Mittwoch meldete die ukrainische Vizeregierungschefin Julija Svyrydova in einer Verbalnote an die US-Botschaft in Kiew Vollzug: Die Ukraine habe alle Formalitäten erfüllt, um die Vereinbarung in Kraft zu setzen. Ihr Inhalt ist allerdings weiterhin nicht vollständig bekannt. (rl)

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