Die Pflege bleibt Intensivpatient
Von Ralf Wurzbacher
Aus Anlass des Internationalen Tages der Pflegenden am 12. Mai haben Beschäftigtenvertreter und Sozialverbände die Politik zu entschlossenem Handeln gegen Unterfinanzierung und Personalmangel in der Pflege aufgerufen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi warnten am Montag vor einem drohenden »Kollaps« des Systems und händigten am Vormittag eine Petition mit weit über 100.000 Unterschriften an die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken vor ihrem Dienstsitz in Berlin-Mitte aus. Die CDU-Politikerin müsse »sofort die Eigenanteile deckeln und eine Pflegevollversicherung einführen«, forderten die Überbringer. Die Koalition hat es weniger eilig: Sie will eine Kommission einsetzen.
2024 stand bei den Pflegekassen ein Minus von mehr als 1,5 Milliarden Euro. Die Beiträge wurden zum Jahreswechsel erneut von 3,4 auf 3,6 Prozent erhöht. So wird es weitergehen, wenn eine grundlegende Neuaufstellung bei der Finanzierung ausbleibt. In jüngerer Vergangenheit war die Zahl der Pflegebedürftigen rasant auf 5,8 Millionen gewachsen. Schätzungen gehen von acht bis zehn Millionen bis 2050 aus. Das ist auch und vor allem eine familienpolitische Herausforderung. Heute werden rund 86 Prozent der Betroffenen zu Hause von Angehörigen betreut. Deshalb brauche es einen »Pflegelohn«, der diese »wichtige und wertvolle Arbeit« anerkenne, erklärte die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, am Sonntag. Eine »weitere Möglichkeit wäre eine Lohnersatzleistung«.
Union und SPD wollen das lediglich prüfen. Ihr Koalitionsvertrag bekennt sich zwar zu einer »großen Pflegereform«, deren Inhalte soll aber zunächst eine »Bund-Länder-Arbeitsgruppe« unter Beteiligung kommunaler Spitzenverbände erarbeiten. Ergebnisse soll es im laufenden Jahr geben, was eine Hängepartie aber nicht ausschließt. Dazu kommt, dass so ziemlich alle Vorhaben der Regierungspartner, bis auf Deutschlands Aufrüstung, unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Doch »Pflege darf nicht arm machen!« bekräftigte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Neben einer Begrenzung von Eigenmitteln pochen die Gewerkschaften auf einen »dynamisierten steuerlichen Bundeszuschuss« sowie die Erbringung versicherungsfremder Leistungen aus allgemeinen Steuermitteln.
Verdi plädiert ferner dafür, mittelfristig alle Einkommensarten, also nicht nur Löhne, sondern zum Beispiel auch Aktiengewinne und Mieteinnahmen, in die Pflegeversicherung einzubeziehen. Außerdem müsse der Pflegeberuf dringend attraktiver gemacht werden. »Ständige Überlastung und das schlechte Gewissen, kranke und pflegebedürftige Menschen nicht professionell versorgen zu können, treibt nach wie vor viele Pflegekräfte aus diesem wunderbaren Beruf«, befand Verdi-Vorstandsmitglied Sylvia Bühler. Ob das noch von Warkers Vorgänger Karl Lauterbach (SPD) auf den Weg gebrachte »Gesetz zur Pflegekompetenz« hier Abhilfe schafft? Auf seiner Grundlage sollen examinierte Pflegekräfte bei der Versorgung von Patienten öfter selbständig ohne ärztliche Weisung entscheiden können. »Mehr Eigeninitiative« bedeutet bekanntlich nicht selten noch mehr Strapazen, noch mehr Unsicherheit. Jedenfalls unterstrich die Ministerin am Montag ihren Willen, die Lauterbach-Vorlage umzusetzen. Im O-Ton: »Pflege kann mehr, als sie bislang darf.«
Ganz sicher nach hinten losgehen würde der Ansatz, Pflegekräfte zu Mehrarbeit zu verdonnern. CDU/CSU und SPD wollen den Achtstundentag durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit ersetzen. Auch mit Blick auf »überlastete« Branchen wie die der Pflege sieht Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) das Vorhaben skeptisch. »Ich höre, dass auch die Unternehmen ihre Probleme mit einer wöchentlichen Arbeitszeit haben – auch wegen der Arbeitszeiterfassung«, zitierten sie am Montag die Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Dabei verwies sie auf eine andere Passage im Regierungsfahrplan: Demnach dürfe niemand »gegen seinen Willen zu längerer Arbeitszeit gezwungen werden«.
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (13. Mai 2025 um 11:00 Uhr)Solange es nicht zu einem »Kollaps« der Profite kommt, ist doch alles andere scheißegal, und solange wird sich auch nichts zum Positiven ändern. Hauptziel und Basis des Geschäftsmodells »Altenpflege« ist ja schließlich nicht die »Pflege« der Alten, sondern die der Akkumulation des Kapitals. Andernfalls wäre es ja gar nicht erst zu diesen katastrophalen Zuständen gekommen.
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