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Aus: Ausgabe vom 13.05.2025, Seite 2 / Ausland
Konflikt in Osteuropa

Poker um Kiew

Ukraine-Krieg: Russisches Verhandlungsangebot entzweit Westen
Von Jörg Tiedjen
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Die EU will so, wie sonst keiner will: Außenbeauftragte Kallas im Gespräch mit Selenskij (Kiew, 1.12.2024)

Der Vorschlag des russischen Präsidenten Wladimir Putin, am Donnerstag in Istanbul mit seinem ukrainischen Gegenüber Wolodimir Selenskij in direkte Friedensverhandlungen einzutreten, hat die westlichen Staaten erneut auseinandergebracht. Am Montag kamen die Außenressortchefs der sogenannten Weimar-plus-Gruppe aus Großbritannien, der EU, Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und Polen in London zusammen, um ihr Vorgehen zu beraten. Im Vorfeld hatten Teilnehmer wie der neue deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) oder die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas bereits ihre Vorbehalte gegenüber dem Angebot Putins wiederholt.

»Deutschland erwartet von Russland jetzt einen Waffenstillstand und dann die Bereitschaft zu Verhandlungen«, sagte Wadephul laut Reuters vor Beginn des Treffens. Auch Kallas machte eine Feuerpause zur Vorbedingung von Verhandlungen mit Moskau: »Um überhaupt Friedensgespräche beginnen zu können, muss es einen Waffenstillstand geben, und wir müssen auch sehen, dass Russland dies will – dass es guten Willen zeigt, dass es sich mit der Ukraine zusammensetzt.« Die estnische Politikerin streitet Putin laut Politico jedoch jegliche Friedensbereitschaft grundsätzlich ab: »Es ist bereits mehr als zwei Monate her, dass die Ukraine einem bedingungslosen Waffenstillstand zugestimmt hat. Russland hat nur Spielchen gespielt. Ich denke, es spielt auch jetzt wieder Spielchen.«

Kiew hatte zuletzt vorgeschlagen, eine von Putin für die Zeit des Weltkriegsgedenkens angeordnete Feuerpause auf 30 Tage zu verlängern. Das war von der russischen Seite abgelehnt worden. Moskau befürchtet, dass Kiew eine Waffenruhe nutzen könnte, um sich militärisch neu aufzustellen. Es besteht darauf, dass vorher grundsätzliche Fragen geklärt werden: Wie steht es um die künftige politische Ausrichtung der Ukraine? US-Präsident Donald Trump hatte Selenskij am Sonntag aufgefordert, das russische Angebot »unverzüglich« und bedingungslos anzunehmen. Es gibt also eine gute und eine schlechte Nachricht: Die eine ist der Zwist im westlichen Block – die andere, dass die europäischen Unterstützer Kiews noch immer nicht zu einem Einlenken bereit sind. Selenskij zumindest kündigte auf X an: »Ich werde am Donnerstag auf Putin in der Türkei warten, persönlich.«

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  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (13. Mai 2025 um 10:43 Uhr)
    Allein schon die großkotzige, machohafte Ankündigung Selenskyjs, er werde am Donnerstag persönlich auf Putin in der Türkei warten, weckt unmittelbar Assoziationen an den Film »High Noon« (in der deutschen Fassung: »Zwölf Uhr mittags«) und dokumentiert mal wieder unmissverständlich das geistige Kaliber dieser lächerlichen Marionette.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (13. Mai 2025 um 09:43 Uhr)
    Selenskij scheint noch nicht vollständig verstanden zu haben, wie die Abläufe internationaler Diplomatie funktionieren. Die Initiative zu einem persönlichen Treffen mit Putin steht ihm weder politisch noch wirtschaftlich zu – und angesichts der militärischen Lage fehlt ihm auch in dieser Hinsicht die Verhandlungsstärke. Wahrscheinlich wird er vergeblich auf ein solches Treffen warten. Auch seine medienwirksamen Inszenierungen verlieren zunehmend an Wirkung. Die internationale Öffentlichkeit reagiert zunehmend skeptisch auf symbolträchtige Auftritte, die ohne konkrete Ergebnisse bleiben. Es wäre an der Zeit, weniger auf Showeffekte zu setzen und stattdessen ernsthafte, reale diplomatische Schritte in Erwägung zu ziehen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (12. Mai 2025 um 23:44 Uhr)
    Wenn Selenskij ankündigt, er »werde am Donnerstag auf Putin in der Türkei warten, persönlich«, dann ist das entlarvend. Putin hatte keineswegs angekündigt, persönlich zu den angebotenen Verhandlungen in die Türkei zu reisen. Warum unterstellt Selenskij indirekt das Gegenteil? Zudem hatte Putin Verhandlungen »ohne Vorbedingungen« angeboten. Warum kommt Selenskij jetzt mit der Vorbedingung, dass Putin dabei sein müsse? Selenskij hat Putins Angebot da in zweifacher Weise entstellt. jW hatte für so ein Verhalten kürzlich den Begriff »Gaslighting« vorgestellt. Täter, die diese Masche praktizieren, seien oft dissoziale, narzisstische Persönlichkeiten oder Borderliner. Selenskij mag sich davon aussuchen, was ihn trifft. Normal ist so ein Verhalten jedenfalls nicht. Wenn das Vertrauensverhältnis durch westliche Wort- und Vertragsbrüche derart tief gestört ist wie im russisch-westlichen Verhältnis, dann wären für eine Konfliktlösung zuerst vertrauenbildende Maßnahmen angezeigt. Gaslighting gehört definitiv nicht dazu. Opfer von Gaslighting seien – so jW – oft ängstliche bzw. abhängige Typen. Wenn der Westen tatsächlich Putin für so einen Menschen halten sollte, dann zeigt das einmal öfter, wie gewaltig er in die Irre abdriftet und sich die Welt nach eigenem Gusto zurechtlügt.
    • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (13. Mai 2025 um 11:12 Uhr)
      Außenminister sprechen in der Regel mit Außenministern, andere Minister mit den Kollegen ihres Ressorts auf der anderen Verhandlungsseite und Präsidenten sprechen auf ihrer Ebene mit Präsidenten. Herr Selenskij ist jedoch laut ukrainischer Verfassung nicht mehr Präsident, was Putin mehrmals betonte. Die westliche Propaganda überträgt die Regelungen, welche diese Verfassung für den Kriegsfall für das Parlament vorsieht automatisch auf den Präsidenten. Davon steht in der ukrainischen Verfassung jedoch kein Wort. Nach Ablauf der Amtszeit des Präsidenten übernimmt – falls kein neuer gewählt wurde – laut dieser Verfassung der Vorsitzende der Rada vorübergehend seine Aufgaben. Dessen Verhandlungspartner wäre dann der Vorsitzende der russischen Duma. Putin äußerte, dass Selenskij selbstverständlich Mitglied einer ukrainischen Verhandlungsdelegation sein könne, aber juristisch nicht mehr das Recht habe, als Staatschef Dokumente zu unterschreiben. Es kommt juristisch nicht darauf an, was die Propaganda behauptet, sondern darauf, was in der ukrainischen Verfassung steht. Nach dieser Verfassung ist Selenskij jetzt ohne Amt. Eine spezielle Regelung für den Kriegsfall ist beim Präsidenten nicht vorgesehen. Er ist Privatperson. Ebenso gut könnte ich jetzt verlangen, dass sich Herr Steinmeier am nächsten Donnerstag mit mir trifft. Da würde mir schon einiges auf der Zunge liegen. Ich warte – persönlich!
      • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (14. Mai 2025 um 11:15 Uhr)
        Es gab von russischer Seite Signale, es mit der mangelhaften Legitimität der Präsidentschaft von Selenskij nicht mehr so genau zu nehmen (jW, 28.4.2025, Seite 1). Dass dieses Signal zeitlich mit dem Quasi-Abschluss der Rückeroberung von Kursk zusammenfällt, ist vielleicht kein Zufall. Ja, wahrscheinlich wird Putin auch mit Selenskij persönlich reden, wenn das gewisse Aussichten auf Fortkommen versprechen würde. Diplomatische Übung ist aber, Gipfeltreffen zunächst auf niedrigerer Ebene vorzubereiten. Und da hat sich Selenskij mit seinem Verbot von Verhandlungen selber ein Bein gestellt. Das dem Wortlaut nach auch für ihn selbst geltende Verbot hat er zwar inzwischen soweit umgelogen, dass allein er von dem Verbot ausgenommen sei, weil er – wenn ich mich richtig erinnere – niemandem in den unteren Rängen vertrauen könne. Das ist natürlich entweder ein Armutszeugnis oder aber erneut gelogen. Was spricht nun dagegen, dass er sein Verbot ein zweites Mal umlügt und auch untere Diplomatenränge ausnimmt? Wenn er das nicht will, dann muss er eben mit der »Schande« leben, abseits diplomatischer Gepflogenheiten als hochrangiger Vertreter der Ukraine mit niederrangigen Vertretern Russlands zu verhandeln. Diese Schande zu vermeiden, indem er Russland die Zusammensetzung der russischen Delegation vorschreiben will, ist jedenfalls ein tiefgehenderer Bruch diplomatischer und demokratischer Grundsätze. Vorschreiben geht gar nicht, nur Aushandeln geht. Aber etwas mit einem Konfliktgegner auszuhandeln, ist für Kiew nun mal ein No-Go. Trotz des in Minsk vereinbarten und vom UN-Sicherheitsrat noch mal bekräftigten Gebots direkter Gespräche zwischen Ost- und Westukraine hatte Kiew diese standhaft verweigert und wollte statt mit dem Konfliktgegner lieber mit dem formal unbeteiligten Russland reden. Und jetzt, wo Russland regulär Konfliktpartei ist, will man eben auf keinen Fall mit Russland verhandeln. Das scheint mir unter der Trump-diktierten Oberfläche unverändert der Fall zu sein.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (12. Mai 2025 um 21:50 Uhr)
    Warten wir ab, wie lange Selenski warten muss. Die Queen hat, glaube ich, zwei Stunden warten müssen.

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