Reden und schießen
Von Reinhard Lauterbach
Natürlich wäre es am besten, wenn der Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich beendet würde. Jeder Tag ohne Bomben und Raketen lässt Menschen am Leben und materiellen Reichtum unzerstört. Aber solche frommen Wünsche werden der Realität dieses Krieges nicht gerecht. Nach wie vor gilt das Wort des Klassikers Carl von Clausewitz, wonach der Krieg die Fortsetzung der Politik unter Einsatz anderer Mittel ist. Und auf der politischen Ebene stehen sich die Ziele beider Seiten nach wie vor diametral entgegen: der Westen will die Ukraine als antirussisches Bollwerk in Osteuropa erhalten, Russland die Entstehung genau eines solchen Vorpostens vor seiner Haustür verhindern. Um das zu erreichen, muss Moskau die Ukraine nicht annektieren, wie ihm die proukrainischen Propagandisten im Westen ständig unterstellen. Es würde theoretisch reichen, der jetzigen und jeder künftigen Regierung in Kiew unmissverständlich zu verdeutlichen, dass ein prononcierter Westkurs für das Land selbstmörderisch ist. Es liegt nun einmal, wo es liegt.
Insofern ist die russische Linie in der Frage, zu welchen Bedingungen es Verhandlungen geben soll, geradezu lehrbuchmäßig: Erst müsse man über die Konfliktursachen sprechen – aus russischer Sicht also die Frage der Nichtaufnahme der Ukraine in die NATO – und danach über einen Waffenstillstand, also den Verzicht auf die »anderen Mittel«. Dass der ukrainische Präsident und seine westlichen Kuratoren die Reihenfolge gern andersherum sehen würden, ergibt sich aus der materiellen Lage der Ukraine: Sie wird auch auf der eigenen Seite inzwischen immer häufiger als kritisch eingeschätzt. Es mehren sich Informationen über fehlende Koordination zwischen den Truppenteilen; der Mangel an frischen Rekruten wirkt sich aus. Die Reise der vier europäischen Staats- und Regierungschefs nach Kiew am Wochenende war der Versuch, von dem politischen Projekt »prowestliche Ukraine« noch zu retten, was zu retten ist: das »Existenzrecht« der Ukraine, wie es der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter formulierte und im selben Atemzug erklärte, mit Russland gebe es nichts zu verhandeln. Aber blau-gelbe Fahnen auf den Kremltürmen kann sich Kiesewetter am heimischen PC zurechtbasteln, in der Realität wird es dazu nicht kommen. Was nichts daran ändert, dass der Westen von seinem hohen Ross wird heruntersteigen und mit Russland verhandeln müssen. Das nächste Sanktionspaket wird Russland vermutlich genauso wenig zum Nachgeben zwingen wie die 16 vorherigen.
Aber dazu müsste sich der Westen auch eingestehen, dass er sich mit seiner Ukraine-Politik der letzten zwölf Jahre gewaltig verkalkuliert hat. Indem er die Entschlossenheit Russlands, sich keine weiteren vollendeten Tatsachen bieten zu lassen, dramatisch unterschätzt hat. Das letzte russische Verhandlungsangebot vom Dezember 2021 hatte der Westen ausgeschlagen. Jetzt hat er den Salat.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (12. Mai 2025 um 09:23 Uhr)Zur Erinnerung: Die militärische Auseinandersetzung in der Ukraine dauert de facto seit dem Maidan-Putsch 2014 an. Bereits 2019 zeigte Putin in Genf Gesprächsbereitschaft gegenüber dem damaligen US-Präsidenten Biden – wurde jedoch abgewiesen. Die Abkommen von Minsk I und II waren im Grunde nichts weiter als taktische Manöver jener westlichen Mächte, die damals versagten, sich aber heute großspurig wieder in den Konflikt einmischen wollen. Im März 2022 stand eine beinahe erzielte Friedensvereinbarung kurz bevor, die jedoch auf Druck des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson – aus welchen ungeklärten Motiven auch immer – torpediert wurde. Nun versuchen einige EU-Staaten, allen voran schwächelnde EU-Regierungschefs, sich zumindest medial in Szene zu setzen, um ihren Wählern politische Bedeutung vorzugaukeln. Dabei ist längst klar: Der Kreml hat kein Interesse an einem »Minsk III« und sieht keine Grundlage, mit europäischen Akteuren zu verhandeln. Meine Einschätzung der Lage: Russland spielt auf Zeit. Der Kreml wird mögliche Verhandlungen so lange hinauszögern, bis die Ukraine militärisch und wirtschaftlich erschöpft ist – denn der Westen ist trotz aller Rhetorik weder willens noch in der Lage, direkt gegen Russland Krieg zu führen. Das war von Anfang an klar und bleibt unverändert. Weder die USA noch die EU verfügen – nach dem weitgehend wirkungslosen Sanktionsmarathon – über ernstzunehmende Druckmittel gegenüber Moskau. Die Militärparade am 9. Mai auf dem Roten Platz hat deutlich gezeigt: Russland steht nicht allein – und ist militärisch nicht zu bezwingen.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (12. Mai 2025 um 05:56 Uhr)»Die Reise der vier europäischen Staats- und Regierungschefs nach Kiew am Wochenende war der Versuch, von dem politischen Projekt ›prowestliche Ukraine‹ noch zu retten, was zu retten ist.« Es ist sicher nicht so, dass allein ein prowestlicher Kurs der Ukraine zum Krieg mit Russland geführt hat. Auch Finnland, Schweden oder Österreich waren jahrzehntelang prowestlich eingestellt, einschließlich wirtschaftlicher und militärischer Zusammenarbeit, ohne jedoch, wie Selenskij anzukündigen, sich Atomwaffen beschaffen zu wollen. Diese Länder beschossen auch nicht acht Jahre lang Russen im Donbass von 2014 bis 2022 und bedienten sich im öffentlichen Leben keineswegs eines so feindseligen Vokabulars gegen Russland wie die Ukraine. Ferner haben nazistische Traditionen aus dem Zweiten Weltkrieg dort nicht den Stellenwert und Einfluss wie die extrem nationalistische Bandera-Ideologie der Ukraine. Es gibt prowestliche Staaten, auch Mitglieder von NATO oder EU, die sich dennoch nicht in gleicher Weise wie die Ukraine gegen Russland instrumentalisieren lassen bzw. nach Atomwaffen streben. Bereits Präsident Jelzin bezeichnete eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als absolute rote Linie für Russland und maßgebliche Persönlichkeiten, auch aus den USA, hatten vor dieser Ausdehnung der NATO gewarnt. Würden Russland oder China Nachbarstaaten der USA in gleicher Weise zum Feindstaat ausrüsten und Militärbündnisse mit Mexiko oder Kanada abschließen, dann würden die USA sich dies niemals bieten lassen. Die beanspruchen ja mit Kanada bzw. Grönland sogar Territorium von Staaten, mit denen sie verbündet sind und die nie zuvor zu den USA gehört haben.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (12. Mai 2025 um 05:16 Uhr)Im scheinheiligen Westen nichts Neues. Da kommt doch aus Moskau ein Angebot, auf welches der Westen bisher pochte: Verhandlungen ohne Vorbedingungen und schon wird die Latte höher gelegt: Erst 30tägige Waffenruhe, dann Verhandlungen. Jeder in dieser Situation noch relativ normal denkende Mensch wird spüren: Hier soll Russland wie bei Minsk II wieder vorgeführt werden. Denn im gleichen Atemzug will Kriegskanzler Merz die Waffenlieferungen (»Taurus«?) aus der öffentlichen Debatte nehmen, erteilen die USA Reexportgenehmigungen für weitreichende Raketen und weitere »Patriot«-Systeme. Warum denn? Es braucht die 30 Tage »Atempause«, damit die Ukraine neu ausgestattet werden kann, ihre Truppen auf Vordermann bringen kann, da sie mittlerweile wahrscheinlich vollkommen unorganisiert handeln. Der richtige Weg wäre meines Erachtens: Sich wirklich ohne Vorbedingungen in Istanbul an den Verhandlungstisch setzen und miteinander reden. Als Grundlage das Istanbuler Abkommen von 2022 heranziehen. Dann im gleichen Atemzug die Waffen schweigen lassen und drittens sollten die europäischen NATO-Staaten aufhören, ihre sinnlosen, trotzdem tödlichen Waffenlieferungen fortzusetzen. Den geschundenen Menschen in der Ukraine und im unmittelbar angrenzenden Teil Russlands muss unsere Solidarität gelten. Sie dürfen nicht weiter durch diesen Fleischwolf gedreht werden. Frieden jetzt! NATO raus aus der Ukraine! Die Ukraine darf nicht weiter auf eine NATO- und EU-Mitgliedschaft getrimmt werden. Die Ukraine muss militärisch und politisch neutral bleiben bzw. wieder werden! Und das unter Kontrolle von einem UNO-Kontingent, dem keine NATO-Staaten angehören dürfen. Lao Tse sagte: »Die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt.« Die Reise zum Frieden in Osteuropa ist ein langer Weg. Der erste Schritt könnte, wenn alle wollen, diese Woche in Istanbul gemacht werden.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (12. Mai 2025 um 00:35 Uhr)Ob der Westen nur »die Entschlossenheit Russlands, sich keine weiteren vollendeten Tatsachen bieten zu lassen, dramatisch unterschätzt hat«? Mir scheint, er hat auch die Fähigkeiten Russlands, seinen Entschluss durchsetzen zu können, unterschätzt. Wenn ich die diversen Dreihundertsechziggradwenden von Frau Baerbock etc. anschaue (keine diplomatische Lösung anstreben, die Entscheidung muss auf dem Schlachtfeld stattfinden, wir sind im Krieg mit Russland …), sind noch ein paar Pirouetten fällig. Auf den Abstieg vom hohen Ross bin ich gespannt, insbesondere, welche Rolle dabei Ross und Reiter spielen. Lektüreempfehlung für die (europäische) Politikelite: »Der Pferdewirtschaftsmeister und Leiter der Reitschule Johannenhof in Heist, Johannes Beck-Broichsitter, stößt ins gleiche Horn. Die Entscheidung, abzuspringen, sei immer situationsbedingt zu fällen.«
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