»Auch öffentliche Schulen sind nicht wirklich kostenlos«
Interview: Thorben Austen, Quetzaltenango
Jüngsten Medienberichten zufolge arbeiten in Ihrem Bundesstaat Chiapas im Süden Mexikos 21 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen fünf und 17 Jahren. Das sind rund 338.000 Kinder und das ist der zweithöchste Wert in Mexiko. Warum ist die Zahl so hoch?
Yesenia Núñez: Das liegt schlicht und einfach am fehlenden Geld in vielen Familien. In Chiapas leben 70 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Ich habe mit sieben Jahren angefangen zu arbeiten, meine Mutter hat einen Stand für Kunsthandwerk in Santo Domingo, ich habe ihr geholfen und auch selbst auf den Plätzen verkauft.
Verhindert das nicht ebenso wie das Arbeiten auf dem Feld oder in einer Fabrik, dass die Betroffenen eine Schulbildung erhalten?
Núñez: Arbeitende Kinder werden oft diskriminiert. Es wird pauschal behauptet, sie gingen nicht in die Schule. Ich bin immer in die Schule gegangen und habe am Nachmittag gearbeitet, wobei es auch Kinder gibt, die nicht in die Schule gehen.
Seit dem Amtsantritt von Präsidentin Claudia Sheinbaum und dem Gouverneur Eduardo Ramírez Aguilar werden Kinder, die auf den Plätzen und Märkten verkaufen, kriminalisiert. Es heißt, das mache einen schlechten Eindruck in der Öffentlichkeit. Es kommt zu Vertreibungen durch die Polizei, sogar kurzzeitige Festnahmen soll es schon gegeben haben. In unserer Organisation sind 32 Kinder organisiert, alle arbeiten als ambulante Händler. Wir tauschen uns aus.
Unternimmt die Regierung Schritte, um die ökonomische Situation der Familien zu verbessern?
Núñez: Ja, es gibt Hilfen wie ein zweimonatlich ausgezahltes Stipendium für arme Familien. Das erreicht zwar nicht alle, ist aber ein richtiger Schritt. Ein Problem ist, dass auch die öffentlichen Schulen nicht wirklich kostenlos sind. In der Mittelstufe muss ein Beitrag pro Schuljahr gezahlt werden, offiziell ist der freiwillig, aber oft wird er verlangt. Schuluniform und Materialien müssen selbst bezahlt werden.
Wie ist es in Peru? Kümmert sich die Regierung um die Belange von Kindern und Jugendlichen?
Anai Quispe: Nein, nicht ausreichend. Ich habe auch mit sieben oder acht Jahren angefangen, Gemüse oder Eis und Süßigkeiten zu verkaufen. Trotz der Arbeit schloss ich die Schule ab und bereite mich auf die Universität vor. Das Problem ist: Schulen in Peru akzeptieren nicht, dass Kinder, die nicht in die Schule gehen konnten, später eingeschult werden. Volljährig kann man gar nicht mehr in die Schule gehen.
In Peru ist in den vergangenen zwei Jahren seit dem Sturz von Präsident Pedro Castillo vieles schlechter geworden. In meiner Provinz ist die Mehrheit gegen Präsidentin Dina Boluarte, es gab viele Proteste, es wurde auf uns geschossen. Ein Compañero aus unserer Organisation, ein 17jähriger Taxifahrer, wurde von der Polizei erschossen. Daher gibt es heute viel Angst davor zu protestieren, das war unter Castillo nicht so.
Gehen Sie davon aus, dass der peruanische Staat Ihre Situation weiter verschlechtern wird?
Quispe: Aktuell wird diskutiert, das Strafmündigkeitsalter zu senken, um Kinder ins Gefängnis sperren zu können. Das nächste Gesetz, das uns bereits betrifft, ist das Gesetz zur Einschränkung und Kontrolle von Nichtregierungsorganisationen, das verhindern soll, dass sie internationale Gelder bekommen. Auch unsere Organisation ist davon betroffen.
Sie waren Ende April auf einem Treffen hier in Guatemala. Worum ging es dabei?
Núñez: Wir waren eingeladen von der Organisation Ceipa, die Schulen für arbeitende Kinder hier in Guatemala anbieten. Wir sind als Organisation in zehn Ländern in Lateinamerika vertreten, aber überwiegend im Süden des Kontinents. Aus dem Norden sind Guatemala und Mexiko die einzigen Länder. Inhaltlich ging es um einen Austausch, Schulungen über unsere Rechte und organisatorische Fragen. Am 1. Mai haben wir an der Demonstration in Quetzaltenango teilgenommen.
Anai Quispe (17 Jahre) lebt in Peru, Yesenia Núñez (16 Jahre) in Mexiko. Beide arbeiten seit ihrer Kindheit als fliegende Händlerinnen und sind Teil der Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher in Lateinamerika und der Karibik (Molacnnats)
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