Viel in Bewegung
Von Nico Popp, Chemnitz
Gar nicht weit von der Chemnitzer Messe, wo am Freitag und Sonnabend der Bundesparteitag von Die Linke stattfand, verfällt in einer Straße, an der sich ein leerstehendes Fabrikgebäude an das andere reiht, das ehemalige, mit mühsam ersparten Arbeitergroschen erbaute Chemnitzer Volkshaus. Die unteren Fenster sind mit Sperrholzplatten und Blechen versperrt, Sprayer sind großflächig am Werk. »Erbaut 1909«, steht stolz über einem der kunstvoll ornamentierten, nun vermauerten Portale. Ein Haus mit Geschichte: 1912, zwei Jahre, bevor die Parteiführung nach rechts hin zur Vaterlandsverteidigung abmarschierte, fand im rückwärtigen großen Saal – auch den gibt es noch – der Parteitag der SPD statt. Der letzte, an dem August Bebel teilnahm. Und im Oktober 1923 trat hier jene Konferenz zusammen, bei der der KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler schließlich von dem Vorhaben Abstand nahm, als Antwort auf den Einmarsch der Reichswehr in Sachsen den Generalstreik beschließen zu lassen – Endstation für die Revolution in Deutschland.
Von dieser verdämmernden Stätte der Arbeiterbewegung dürfte kaum ein Delegierter des Parteitages Notiz genommen haben, und Generalstreik und Revolution waren sowieso kein Gegenstand der Verhandlungen. Die Stimmung war nach dem für die Partei so triumphalen wie überraschenden Resultat der Bundestagswahl bestens; die Reden der mit Fanfaren in Szene gesetzten führenden Funktionäre durchzog ob der unverhofften Wendung der Lage Optimismus – Koparteichef Jan van Aken etwa rief mit Blick auf die im September anstehenden Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen aus, er sehe »schon die eine oder andere Bürgermeisterin oder Stadträtin«. Da es in der Partei vorerst keinen »Streit« klar voneinander abgesetzter Flügel mehr gibt, rollte auch dieser Parteitag ohne große Herausforderungen für die Regie ab.
Aber immerhin, so beharrlich stellen sich manche alten Fragen, ging es durchaus auch um das Verhältnis der Partei zu Aufrüstung und »Verteidigung«. In zugespitzter Form – nachdem am Freitag ein ausgehandelter Antrag zur Friedenspolitik recht einmütig verabschiedet worden war – allerdings erst zum Ende hin, als ein Antrag der Linksjugend und des Studierendenverbands SDS aufgerufen wurde, der einen kritischeren Umgang mit der Zustimmung der mitregierenden Landesverbände in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern zu den Grundgesetzänderungen im März einforderte. Bis dahin war es gelungen, das Thema nicht groß werden zu lassen – in Fortsetzung der Linie der vergangenen Wochen: Die Abstimmung wird in papiernen Erklärungen nicht für gut befunden, und ansonsten redet man möglichst nicht darüber.
Nun wurde genau das gemacht – verbunden mit einer Rücktrittsforderung und dem Auftrag, die Verbindlichkeit von Parteibeschlüssen für Mandatsträger zu erhöhen. »Wer so abstimmt, zerstört die Geschlossenheit – nicht diejenigen, die das kritisieren«, hieß es bei der Einbringung. Die Gegenrede hielt Koparteichefin Ines Schwerdtner. Sie gab den Antragstellern »inhaltlich recht«, verwies aber auf ein im Leitantrag vorgesehenes »Verfahren«, das solche auseinandergehenden Positionierungen in Zukunft verhindern soll. Und sie wandte sich dagegen, an Regierungsmitgliedern in den Ländern »Exempel zu statuieren«. Der Antrag wurde mit 219 gegen 179 Stimmen bei 39 Enthaltungen abgelehnt – ein Erfolg für die anpassungsbeflissenen Akteure in der Partei. Die haben im Moment ohnehin einen Lauf; der Bremer Landeschef Christoph Spehr etwa gab zu Protokoll, er sei »sehr zufrieden« mit der Entscheidung der Fraktion, einen zügigen zweiten Wahlgang für Friedrich Merz zu ermöglichen.
Linksjugend und SDS brachten noch einen anderen, in diesem Fall auch gebilligten Antrag ein: Darin wird der Vorstand aufgefordert, bis 2029 eine »ArbeiterInnenquote« auf Wahllisten verpflichtend zu machen, um die Dominanz von Akademikern in den Parlamenten etwas zu moderieren. Diese seien nämlich, wurde bei der Einbringung erläutert, anfälliger dafür, »sich mit dem System zu arrangieren«. Hier gab es keine Gegenrede – aber doch auffallend viele Gegenstimmen und Enthaltungen.
Die beiden Anträge bestätigen die bereits im Herbst in Halle gemachte Beobachtung, dass aus linker Sicht vor allem die beiden Jugendverbände eine interessante Entwicklung nehmen. Die Zeit, in der die Parteijugend im Durchschnitt noch angepasster war als die Mutterpartei, scheint vorerst vorbei zu sein (auch wenn abzuwarten bleibt, wie sich der Zustrom vieler junger Leute aus dem »progressiv«-liberalen Spektrum hier auswirkt). Kaum überraschend also, dass eine beantragte Änderung des Statuts, laut der die Vorstände und Geschäftsführungen von Linksjugend und SDS fortan bei Bundesparteitagen automatisch als Delegierte mit beratender Stimme zugelassen worden wären, nach einer Gegenrede des Bundesgeschäftsführers abgelehnt wurde.
Nicht gänzlich im Sinne der Parteispitze wurden zwei Anträge zum Nahostkonflikt entschieden. Insbesondere einer, der sich für eine Antisemitismusdefinition ausspricht, mit der Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern nicht im Handumdrehen als antisemitisch denunziert werden kann, sollte ersichtlich mit allen Kräften verhindert werden. Auch Jan van Aken warf sich in die Bresche. In dem Fall ohne Erfolg: Der Antrag wurde mit 213 gegen 181 Stimmen angenommen.
Die Debattenbeiträge bei solchen Parteitagen verraten indes mehr über die Entwicklung der Linkspartei als die meist schnell abgehefteten Beschlüsse. Sie zeigen, dass in der Partei viel in Bewegung ist und die opportunistische Rechte die Lage nicht vollständig beherrscht. Sie zeigen aber auch, dass inzwischen offen und durchaus unter Beifall Auffassungen vertreten werden, die direkt aus dem liberalen Mainstream kommen: Am Freitag etwa warf ein Delegierter die Frage auf, ob man denn »einseitig abrüsten« solle, wenn Russland, China und Nordkorea aufrüsten. Eine Delegierte beklagte ein »notorisches Festhalten an Glaubenssätzen« in der Friedenspolitik. Der Ruf nach Aufrüstung habe doch einen »realen Anlass«.
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Leserbrief von Dr. Hans-Joachim Müller aus Bad Zwischenahn (12. Mai 2025 um 11:24 Uhr)Warum bedarf es eines bürgerlichen Mediums, in diesem Falle der »Tagesschau«, um zu erfahren, dass die Fraktionsvorsitzende der Linken in ihrer Rede auf dem Parteitag zwei außerordentlich bemerkenswerte Aussagen getätigt hat: Zum einen ihr Aufruf zum »Sturz des Kapitalismus« – wäre eine Schlagzeile wert gewesen –, zum anderen die Unvereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus! Damit wird auch die Systemffrage (endlich) in den politischen Diskurs von einer Partei eingebracht, der ich dieses eigentlich nicht mehr zugetraut hatte. Was immer denn auch unter der genannten Perspektive »demokratischer Sozialismus« zu verstehen sein dürfte, es könnte damit eine dringend notwendige Debatte in der deutschen Linken entfacht werden, an der sich vielleicht auch das BSW beteiligt.
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Leserbrief von Dr. André Wagner aus Salzkotten (12. Mai 2025 um 13:25 Uhr)Sehr geehrter Herr Dr. Müller, die von ihnen genannten Aussagen glaubt doch eh keiner, der sich ein wenig mit (salon)linker Politik befasst. Gleichzeitig hat Herr van Aken postuliert, dass die Partei alles tun muss, um Merz und Klingbeil zu stoppen (Kam heute morgen gegen 08.40 Uhr in der Berichterstattung von WDR 5). Ein paar Tage vorher wurde durch die Bundestagsfraktion der Weg zur Wahl des Blackrock-Kanzlers frei gemacht, sicher nicht ohne Zustimmung des Vorstandes. Wahre Opposition sieht anders aus. Mit freundlichen Grüßen, Dr. A. Wagner
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Leserbrief von kwf (12. Mai 2025 um 13:25 Uhr)Herr Müller! Erwarten Sie tatsächlich von der Nicht-Mehr-Linkspartei (NMLp) eine ernsthafte Infragestellung des Kapitalismus? Die Pseudo-Linke wurde von Gysi in den letzten Jahrzehnten dermaßen sozialdemokratisiert, daß diese angebliche Kapitalismus-Kritik eher das typische sozialdemokratische Linksblinken ist, aber real eine Rechtsabweichung sein wird. – In einem stimme ich Ihnen zu: Die Systemfrage muss gestellt werden; aber auch in die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung hineingetragen. Die NMLp und das BSW sind weit entfernt von der Arbeiterklasse und damit weit entfernt von gewerkschaftlichem Engagement. Zumal die jetzigen Gewerkschaften in ihrer Mehrheit für Aufrüstung stehen. Sie haben bestimmt den Artikel »Umfrage: Zwei Drittel der Deutschen gegen Taurus-Lieferung an Ukraine« auf den Nachdenkseiten gelesen. Darin ist u. a. festgestellt (laut einer Umfrage), »dass Anhänger der Parteien Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke mit 79 beziehungsweise 68 Prozent diejenigen mit dem größten NATO-Vertrauen sind.« Wie passt da die angebliche Kapitalismus-Kritik der NMLp mit eben dieser militaristischen Einstellung zusammen? Hier streut diese Verräter-Linke ihrer Wählerschaft Sand in die Augen. – Reichinnek und ihre Fraktion haben mit ihrer Unterstützung undon Merz erst mal radikal den Kurs des Links-seins gestürzt. – Man muss Reichinnek & Co. keine subjektive, verräterische Absicht unterstellen. Sie ist da einfach so »reingerutscht«. Sie spielt das Spiel des Parlamentarismus mit seinen »Sachzwängen«. Flugs richtet sie sich auf die nächsten Deals ein: »Die CDU muss begreifen, dass sie an uns nicht vorbeikommt.« Schmierste meine Hand, schmier’ ich deine Hand; beide sind voller Korruptionsdreck. – Solche Pseudo-Linken leisten der verbreiteten Verwechslung von rechts und links Vorschub, halten sich aber für »antifaschistisch«. – Solche Pseudo-Linken sind der Mörtel, der den Kapitalismus eher verfugt und absichert. So wie die SPD seit dem Gothaer Programm von 1875.
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