Gegründet 1947 Montag, 12. Mai 2025, Nr. 109
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 12.05.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Handelskrieg

Waren auf Umwegen

Die US-Zollpolitik nötigt China eine Diversifizierung der Handelswege auf. Damit gerät das Nachbarland Vietnam in den Blick
Von Jörg Kronauer
3.JPG
Welche Ware wechselt das Land? Bauteile zur Weiterverarbeitung oder Fertigprodukte, die umetikettiert werden? Gütertransport an der chinesisch-vietnamesischen Grenze

Tricksen chinesische Unternehmen im großen Stil die US-Zollbehörden aus? Berichte, nach denen zumindest eine gewisse Zahl an Firmen aus der Volksrepublik Wege gefunden hat, die beispiellosen Zölle zu umgehen, die US-Präsident Donald Trump auf Importe aus China verhängt hat, machen verstärkt seit Anfang vergangener Woche die Runde.

Laut der Financial Times nutzen chinesische Firmen einige Länder Südostasiens, zum Beispiel Vietnam, um ihre Produkte dort mit falschen Herkunftsbezeichnungen zu versehen und sie anschließend in die Vereinigten Staaten weiterzuexportieren. Parallel zeigen aktuelle Handelsstatistiken, dass Vietnams Exporte in die USA stark boomen. Ist das ein Zeichen für milliardenschweren chinesischen Zollbetrug? Oder hat der Boom eine ganz andere Ursache – beginnen die US-Bemühungen, den Handel mit China zu kappen und ihn durch Handel mit anderen Staaten zu ersetzen, etwa mit Vietnam, so langsam zu greifen?

Die Lage ist komplex. In den vergangenen Jahren haben diverse Unternehmen Fabriken aus China nach Vietnam verlagert. Das hatte vor allem zweierlei Ursachen. Zum einen stiegen die Löhne in China; das machte es für Unternehmer insbesondere bei arbeitsintensiven Produkten attraktiv, von dort etwa nach Vietnam zu wechseln, wo die Arbeitskosten erheblich niedriger waren. Diese Entwicklung war längst im Gang, als Trump in seiner ersten Amtszeit seinen Wirtschaftskrieg gegen Beijing entfesselte.

So mancher Konzern begann jetzt, einen Teil der Produktion nach Vietnam zu verlegen, um im Falle einer Eskalation des Wirtschaftskriegs die Vereinigten Staaten eben von dort aus beliefern zu können. Einer dieser Konzerne war Apple. Heute zeigt sich, dass der Plan aufgegangen ist: Seit Trump mit absurden Zöllen von 145 Prozent den Export aus China in die USA abgewürgt hat, beliefert Apple das Land nun soweit wie möglich aus seinen Werken in Vietnam und Indien.

Wie umfassend Vietnams Industrie dank dieser Entwicklung boomt, zeigt das Wachstum seiner Exporte in die Vereinigten Staaten. Lagen sie 2018 noch bei rund 50 Milliarden US-Dollar, so stiegen sie bis 2020 schon auf fast 80 Milliarden US-Dollar und schnellten bis 2024 auf rund 137 Milliarden US-Dollar in die Höhe. Dabei nahmen die Lieferungen nicht nur von Kleidung, sondern auch von Maschinen und von Elektronik rasch zu: Vietnam klettert auf der Technologieleiter Schritt für Schritt nach oben; es folgt erfolgreich einem exportgetriebenen Wachstumsmodell, ganz ähnlich wie China.

Eine Besonderheit gibt es dabei: Zahlreiche Fabriken in Vietnam beziehen Bauteile, die sie zur Produktion benötigen, aus China. Mit dem Wachstum der vietnamesischen Produktion sowie der vietnamesischen Exporte in die USA nahmen also auch die Exporte chinesischer Bauteile nach Vietnam beträchtlich zu. Vietnam ist auf diese Weise, wenn man so will, zu einer Art ökonomischem Bindeglied zwischen den USA und China geworden.

Das wäre alles kein Problem, wäre Trump nicht chronisch auf US-Handelsdefizite fixiert. Diese aber sind im Fall Vietnams gigantisch: Weil das Land nur sehr geringe Warenmengen in den Vereinigten Staaten einkauft – 2024 waren es Güter im Wert von gerade einmal 13 Milliarden US-Dollar –, führten seine auf rund 137 Milliarden US-Dollar gestiegenen Exporte in die USA zu einem US-Defizit von fast 124 Milliarden US-Dollar. Das war das dritthöchste US-Defizit überhaupt. Es hat dazu beigetragen, dass die Trump-Administration am 2. April Zölle von dramatischen 46 Prozent auf Einfuhren aus Vietnam verhängte. Und wenngleich die Zölle bereits kurz darauf für 90 Tage ausgesetzt wurden – sie sind ein Damoklesschwert, das drohend über Hanoi hängt.

Nun hat Vietnam zum einen in Aussicht gestellt, künftig mehr US-Produkte zu kaufen. Und es will sich zudem eines speziellen Phänomens annehmen: Hinter seinem stark gestiegenen Import aus China verbirgt sich zwar vor allem die völlig legale Einfuhr von Bauteilen für vietnamesische Fabriken. Aber seit Trump in seiner ersten Amtszeit die Zölle für Einfuhren aus der Volksrepublik hinaufsetzte, versuchen tatsächlich einige chinesische Firmen, ihre Waren nach Vietnam zu transportieren, um sie dort mit vietnamesischen Herkunftspapieren zu versehen und sie dann zu geringeren Zöllen in die USA zu liefern.

Hohe Zölle führen überall auf der Welt zu Versuchen, sie zu umgehen; die Frankfurter Allgemeine etwa sagte unlängst gar eine Zunahme des Schmuggels aus aller Welt in die USA voraus. Dennoch – legal ist das Umdeklarieren nicht. Es ist laut US-Gesetz nur dann zulässig, wenn in einem Land, in Vietnam etwa, ein signifikanter Anteil an Wertschöpfung hinzugefügt wird. Das ist beim Beschaffen neuer Herkunftsdokumente natürlich nicht der Fall.

Vietnams Regierung hat am 3. April, wenige Stunden nach Bekanntgabe der neuen US-Zölle, auf einer Krisensitzung beschlossen, entschiedener gegen derlei Praktiken vorzugehen, deren Wildwuchs vor allem von kleineren chinesischen Privatunternehmen ausgeht. Ein Insider berichtete Reuters, Hanoi lege Wert darauf, dabei nicht mit Beijing in Streit zu geraten. Man darf vermuten, dass das Thema verhandelt wurde, als sich Chinas Präsident Xi Jinping am 14. April zu Gesprächen in Hanoi einfand. Am 15. April setzte die vietnamesische Regierung eine neue Direktive in Kraft, laut der die Behörden nun entschieden gegen das Umdeklarieren vorgehen sollen. Vietnam beschafft sich so Verhandlungsmasse gegenüber den USA.

Schreiten die vietnamesischen Behörden tatsächlich in größerem Stil gegen chinesische Umwegexporte ein, dann nimmt das einer gewissen Anzahl überwiegend kleiner chinesischer Unternehmen die wohl letzte Chance, ihre Exporte in die USA zu retten. Firmenpleiten wären die Folge – ein für China schmerzlicher Vorgang, dessen gesamtwirtschaftliche Bedeutung aber Grenzen hat. Nicht betroffen ist der boomende legale Export insbesondere von Bauteilen für Vietnams Exportproduktion. Bräche diese ein, dann verlören auch die chinesischen Zulieferer ihre Aufträge; der Verlust wäre ungleich härter. Insofern liegt Vietnams Versuch, seine Ausfuhren in die USA mit gewissen Zugeständnissen zu retten, durchaus auch im Interesse Beijings.

Hintergrund: Handelsdefizit

Die Handelsgespräche von Vietnam und USA wurden überschattet: Einem Reuters-Bericht zufolge haben Vietnams Exporte in die Vereinigten Staaten zuletzt ein Rekordhoch erreicht, während die Importe des Landes aus den USA auf niedrigem Niveau dahindümpeln. Das US-Handelsdefizit gegenüber Vietnam ist also höher denn je; und man weiß, dass dies die Ziffer ist, auf die US-Präsident Donald Trump reflexhaft reagiert. Das Defizit spielte also eine gewichtige Rolle, als Vietnams Industrie- und Handelsminister Nguyen Hong Dien in Hanoi zu einem ersten Austausch mit US-Botschafter Marc E. Knapper über das Abkommen zusammentraf. Man fordere die Unternehmen des Landes auf, gefälligst mehr in den USA einzukaufen, hieß es vorab prophylaktisch von vietnamesischer Seite.

Freilich relativiert sich der Bericht bei näherem Hinsehen erheblich. Laut der offiziellen US-Regierungsstatistik sprangen Vietnams Exporte in die USA im März in der Tat rasant in die Höhe und erreichten ihr bisheriges Allzeitmonatshoch – fast 15 Milliarden US-Dollar. Das ist allerdings ein leicht erklärlicher Einmaleffekt. Wie üblich, wenn man weiß, dass zu einem bestimmten Termin neue Zölle drohen, hatten US-Unternehmen vor den für den 2. April angekündigten US-Zöllen importiert, was nicht niet- und nagelfest war. Damit war klar, dass Vietnams Exportwert im März durch die Decke gehen würde. Klar war aber auch, dass er danach wieder sinken werde. So erklärt sich, dass die vietnamesische Statistik für April einen Exportwert von nur zwölf Milliarden US-Dollar aufweist. Das ist zwar der höchste Aprilwert aller Zeiten; allerdings kommt er an den Märzwert nicht mehr heran, und seine relative Höhe ergibt sich daraus, dass die Zölle ausgesetzt wurden und US-Firmen erneut ihre Lager bis zum Platzen füllen: für den Fall, dass die Handelsgespräche scheitern und Washington die Zölle wieder aktiviert.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Die Umarmung von Xi Jinping und Pham Minh Chinh besiegelt die Sc...
    19.04.2025

    Vietnam wählt China

    Hanoi und Beijing bilden vor dem Hintergrund des Handelskriegs der USA »Schicksalsgemeinschaft« und vertiefen Zusammenarbeit
  • US-Strafzölle beleben Zusammenarbeit: Chinas Präsident Xi (ganz ...
    16.04.2025

    Xi besucht Hanoi

    Vietnam erste Station der Südostasienreise von Chinas Staatsoberhaupt. Zollkrieg der USA im Mittelpunkt der Gespräche
  • Vorbereitung auf den Staatsbesuch: Arbeiter legen am Präsidenten...
    14.11.2017

    Gegenseitiges Interesse

    Trump mit Vietnam-Besuch zufrieden. Handelsabkommen über zwölf Milliarden US-Dollar unterzeichnet

Mehr aus: Schwerpunkt