Gegründet 1947 Freitag, 27. Juni 2025, Nr. 146
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 12.05.2025, Seite 1 / Titel
Ukraine-Krieg

Alle reden vom Reden

Russland fordert Ukraine auf, an den Verhandlungstisch in Istanbul zurückzukehren. Kiew will vorher Waffenruhe
Von Reinhard Lauterbach
1.jpg
Sie reden viel, sie sagen wenig. Merz, Macron, Selenskij, Starmer und Tusk am Sonnabend in Kiew

Russland hat die Ukraine aufgefordert, an den 2022 von ihr verlassenen Verhandlungstisch zurückzukehren. Präsident Wladimir Putin sagte in der Nacht zum Sonntag, Russland sei zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen bereit. Nicht Moskau habe 2022 die Friedensgespräche abgebrochen, sondern die Ukraine. Putin schlug als Termin für die neuerlichen Gespräche den kommenden Donnerstag vor und als Ort Istanbul. Dort hatten Vertreter Russlands und der Ukraine 2022 verhandelt. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan erklärte die Bereitschaft seines Landes, Gastgeber solcher Verhandlungen zu sein. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, sagte am Sonntag, zuerst müsse es um die »primären Ursachen« des Konflikts gehen, also im Klartext um die Frage, ob die Ukraine der NATO beitritt; erst danach könne man über einen möglichen Waffenstillstand sprechen.

Auf ukrainischer Seite sagte Staatspräsident Wolodimir Selenskij, die Ukraine sei zu Verhandlungen bereit, wenn Russland zuvor eine bedingungslose Waffenruhe akzeptiere. Es habe keinen Sinn zu verhandeln, wenn gleichzeitig die Waffen sprächen. Ähnlich äußerte sich auch der französische Präsident Emmanuel Macron. Er nannte Putins Angebot unzureichend. Es müsse ab sofort eine Waffenruhe für mindestens 30 Tage geben. Der französische Präsident war am Sonnabend gemeinsam mit Bundeskanzler Friedrich Merz, dem britischen Premier Keir Starmer und dem polnischen Regierungschef Donald Tusk nach Kiew gereist, um der Ukraine die fortdauernde Unterstützung »Europas« zuzusichern. Die vier Politiker drohten Russland mit weiteren Sanktionen, wenn das Land nicht sofort das Feuer einstelle. Angeblich hat auch US-Präsident Donald Trump die Initiative der »Europäer« unterstützt. Eine direkte Bestätigung dafür aus Washington gab es allerdings zunächst nicht. Trump schrieb auf seiner Onlineplattform »Truth Social« nur, es stehe »eine großartige Woche« bevor, und die USA würden weiter daran arbeiten, dass das »sinnlose Blutbad« in der Ukraine ein Ende finde.

Einstweilen sieht es nicht danach aus. Russland und die Ukraine beschuldigten sich gegenseitig, die Waffenruhe der letzten drei Tage in zahlreichen Fällen gebrochen zu haben. Nachprüfbar sind diese Vorwürfe in der Regel nicht. Ukrainische Medien berichteten am Sonntag von einem »maximal erfolglosen« und mit hohen Verlusten erkauften Gegenangriff ukrainischer Truppen in der seit Monaten umkämpften Bergbaustadt Torezk. Die ukrainische Seite habe zahlreiche Panzer und andere Fahrzeuge in einer geschlossenen Kolonne über offenes Gelände herangeführt, so dass die russischen Drohnenführer eine förmliche »Safari« hätten veranstalten können. Das militärnahe Portal »Deep State UA« beschuldigte die Militärführung mangelnder Koordination. Dieser Vorwurf ist zuletzt öfter zu hören gewesen. Berichtet wird auch von ukrainischer Seite immer häufiger, dass das ukrainische Militär seine wenigen Reserven ständig verlegen müsse, um akut entstehende Lücken zu stopfen. Örtliche Kommandeure handelten immer öfter auf eigene Faust und ohne Absprache mit der höheren Führung oder benachbarten Einheiten. Ukrainische Medien spekulierten auch über einen angeblich bevorstehenden Versuch Russlands, sich wieder auf dem rechten Dnipro-Ufer in der Gegend von Cherson festzusetzen. Es seien schon mehrere hundert Boote für die Überquerung des Flusses gesammelt worden.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (12. Mai 2025 um 12:18 Uhr)
    Was soll die Forderung nach einem 30tägigen Waffenstillstand, wenn nicht einmal der eintägige Osterfrieden oder die 30tägige die Energieinfrastruktur schützende Waffenruhe umsetzbar waren? Den dreitägigen Waffenstillstand zur Feier des Sieges über den Nationalsozialismus hat die Ukraine sogar von vornherein offen abgelehnt. Und die in Minsk 2014 und 2015 ausgehandelten Waffenruhebestimmungen wurden ebenfalls nicht umgesetzt, und zwar ganz bewusst und gewollt nicht umgesetzt, wie Hollande, Merkel und Poroschenko zwischenzeitlich recht offen eingestanden hatten. So sehr eine Waffenruhe wünschenswert ist, so sehr sollte auch sichergestellt werden, dass die Waffenruhe nicht lediglich erneut der Vorbereitung eines neuen Waffenganges dient. Die Minsker Vereinbarungen endeten bekanntlich in einer massiven Gewalteskalation ab Mitte Februar 2022, die Russland erst zum Eingreifen in der Ukraine bewog. Kein Mensch hat im Westen wahrnehmbar untersucht, wer für die Eskalation vor dem russischen Kriegseintritt verantwortlich war. Die Berichte der OSZE belegen lediglich, dass die Inspektoren östlich der Demarkationslinie mehr Knallgeräusche wahrgenommen hatten als westlich der Linie. Dabei müsste man eigentlich annehmen, dass bei Artilleriebeschuss dem Abschussknall auf der einen Seite die Granatenexplosion auf der anderen Seite gegenüberstehen müsste, also auf beiden Seite gleich viel Knallgeräusche wahrnehmbar sein müssten. Bei Gewehrschüssen ist allerdings der Abschusskanll größer als das Einschlaggeräusch, bei aus Flugzeugen abgeworfenen Bomben dürfte es umgekehrt sein. Wer bitteschön hat das damals untersucht? Bei mir ist nichts angekommen, man hat einfach ohne Untersuchung das Mantra deklamiert, Russland sei an allem Schuld. Dass russischerseits keinerlei Motivation besteht, sich erneut von westlichen faktenbefreiten und allein auf halluzinierten Vorstellungen basierenden »Verhandlungspostionen« hinters Licht führen zu lassen, ist für mich verständlich.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (12. Mai 2025 um 10:11 Uhr)
    Russland hat seine Gesprächsbereitschaft deutlich signalisiert: Präsident Wladimir Putin erklärte, man sei zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen bereit, und forderte die Ukraine auf, an den 2022 verlassenen Verhandlungstisch in Istanbul zurückzukehren. Im Gegensatz dazu knüpft Präsident Wolodymyr Selenskyj mögliche Gespräche an die Bedingung einer bedingungslosen Waffenruhe seitens Russlands. Doch wer ohne Vorbedingungen zum Dialog einlädt, kann schwerlich akzeptieren, dass die Gegenseite genau solche Bedingungen stellt. Kiew scheint — oder will — dabei nicht erkennen, was mittlerweile selbst im Oval Office auf offener Bühne und vor den Augen der Welt deutlich gemacht wurde: Die Ukraine steht militärisch unter massivem Druck und verfügt kaum noch über strategische Optionen. Obwohl, dass diese Realität inzwischen auch von ehemals bedingungslosen Unterstützern offen ausgesprochen wird, sollte ein Warnsignal sein. Wenn Russland zu Gesprächen ohne Vorbedingungen einlädt, wirkt es widersprüchlich, wenn die Ukraine genau dies verlangt, bevor überhaupt verhandelt wird. Hinzu kommt, dass Präsident Selenskyj bereits bei den Minsker Abkommen in der Vergangenheit keine Bereitschaft zeigte, die vereinbarten Regelungen umzusetzen. Damals hätte er, mit politischem Willen, noch eine reale Chance auf Frieden gehabt – genau das war auch eines seiner zentralen Wahlversprechen. Heute jedoch herrscht ein offener Krieg, und die Ukraine befindet sich in einer militärisch weit ungünstigeren Lage als damals. Je länger ein Kompromiss aufgeschoben wird, desto geringer dürften die Chancen der Ukraine sein, eine für sie günstige Lösung zu erreichen — sowohl politisch als auch militärisch geschweige wirtschaftlich allein zu überleben.

Ähnliche:

  • Russlands Präsident Putin auf dem Gipfeltreffen der Shanghaier O...
    05.07.2024

    Ende der Allmacht

    Der Westen und der SOZ-Gipfel
  • Istanbul erreicht: Die »Joseph Schulte« hat Mitte August als ers...
    05.09.2023

    Sanktionen müssen fallen

    Treffen in Sotschi: Russland pocht auf Vorbedingungen, um Getreideabkommen wieder aufzunehmen. Türkei glaubt an baldige Lösung
  • Der Sozialdemokrat Kemal Kilicdaroglu am Dienstag in Van
    05.05.2023

    »Kilicdaroglu bemüht sich um Ausgewogenheit«

    Türkei: Wahlsieg des Kandidaten der Opposition würde nicht zu Abkehr vom wichtigen Handelspartner Russland führen. Ein Gespräch mit Ilhan Uzgel