Der Neoliberalismus wird abgewickelt
Von Lucas Zeise
Eine Eckgröße, um die herum das neoliberale Finanzsystem bisher immer noch mehr schlecht als recht funktioniert, ist das US-amerikanische Außenhandels- und Leistungsbilanzdefizit. Es wird gerade durch die Zollpolitik des US-Präsidenten Donald Trump bekämpft. Das erklärt die Aufgeregtheit der Ökonomen, die sich mit dem Zustand der Weltwirtschaft als ganzes System befassen. Es erklärt auch die Aufregung an den Finanzmärkten, wo jede taktische Wendung in Richtung Verschärfung der Zollpolitik mit sinkenden Aktienkursen, steigenden US-Zinsen am US-Bondmarkt und einem schwächeren US-Dollar quittiert wird. Wenn es dem US-Präsidenten gerade mal wieder einfällt, diesen oder jenen Importzoll aufzuschieben oder diesem oder jenem Land Aufschub bei der »Bestrafung« mit Zöllen zu gewähren, oder wenn er nur eine Weile lang zu diesem Thema schweigt, nehmen die Aktienkurse ihre quasi naturgegebene Aufwärtstendenz wieder auf. Aber die Unsicherheit bleibt. Ein Zeichen dafür ist der steile Anstieg des Goldpreises. Der hat zu Jahresanfang nicht nur locker das Rekordhoch von 3.000 Dollar je Unze übersprungen, sondern ist danach weiter auf sensationelle 3.500 Dollar gestiegen. Trump hat kurzfristig erreicht, der Finanzwelt des Globus zu zeigen, dass die USA immer noch die ökonomische Weltmacht darstellt und dass jedes Husten und jeder Versprecher ihres Präsidenten zu Panikattacken führen kann. Aber nicht wenige Finanzleute in den USA selbst verfluchen die Tage, als das US-Parlament die Hoheit über die Zollpolitik der Exekutive überlassen hat (mit dem Trade Act 1974 und dem International Emergency Economic Powers Act 1977).
Trump nutzt dieses Recht der Exekutive und geht mit einseitig zu erhebenden Zöllen auf Importe gegen das Dauerproblem der USA, das riesige Defizit im Außenhandel, vor. Durch Zölle sollen die Importe verringert werden. Gleichzeitig sollen die Zölle Einnahmen des Staates generieren, um dafür die Steuerbelastung der Unternehmen und reichen Bürger des Landes reduzieren zu können. Die jetzige Regierung Trump versucht damit, mit dem aktuellen Welthandels- und Finanzsystem zu brechen, das sich unter Führung der USA und zu deren Vorteil in den letzten hundert Jahren herausgebildet hat. In der ersten Regierungszeit Trumps (2016–2020) waren diese Versuche noch zaghaft. Sie werden jetzt mit größerer Entschiedenheit und Unterstützung erheblicher Teile des US-Kapitals vorgetragen. Das Mittel der Wahl ist die Zollpolitik, mit deren Hilfe die USA zur größten kapitalistischen Nation wurden.
Was die USA groß machte
Zölle spielten bei der Herausbildung kapitalistischer Nationen überhaupt eine große Rolle. Für die Exekutive der Staaten – fast überall im 18. Jahrhundert noch monarchistische Regimes – waren Zölle die wichtigste Einnahmequelle. Sie dienten im 19. Jahrhundert dem Schutz der sich herausbildenden Industrie. Das gilt insbesondere auch für Deutschland, wo die gemeinsamen Zölle Preußens und der kleineren Fürstentümer gegen die Importe aus der noch führenden Industrieweltmacht Britannien die Voraussetzung für die kapitalistische Herausbildung des Deutschen Reiches schufen. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika bildeten sich in der Auseinandersetzung mit dem Mutterland, der britischen Krone, um die Zuständigkeit der Zölle mit heraus. Nach dem Bürgerkrieg (1861–1865) und dem Sieg der Industriepartei gegenüber den großen Landbesitzern und Sklavenhaltern begann die Hochzeit der Importzölle auf Industriewaren. Die USA wurden, ähnlich wie Deutschland, zur kapitalistischen Nation unter dem Schutz eigenständig festgelegter Importzölle. Mit ihrer Hilfe entwickelten sich die USA bis zum Ersten Weltkrieg zur größten Industrienation des Globus.
Im Weltkrieg gingen die Zölle erstmals auf eine Belastung von unter zehn Prozent zurück, um der heimischen Industrie die schnelle Produktionsausweitung zu ermöglichen. Erst nach dem Krieg wurden die Importzölle in zwei Schüben wieder erhöht, deren zweiter (Smoot-Hawley Act) unmittelbar nach dem Börsenkrach 1929 erfolgte und die Belastung der Importwaren auf 20 Prozent hochschnellen ließ. Diese Importzollerhöhung gilt heute als wesentlicher Faktor für die Vertiefung der Weltwirtschaftskrise, weil sie die Abschottung des Marktes des damals schon reichsten Landes des Globus bedeutete.
Wie es sich für bei weitem stärkste Industrienation gehört, haben sich alle US-Regierungen seit dem Zweiten Weltkrieg für den »freien Welthandel« stark und den Zugang zum größten Absatzmarkt der Welt zu ihrem Markenzeichen gemacht. Gegenseitig wurden zwischen kapitalistischen entwickelten Ländern Zölle und andere Handelshindernisse – keineswegs konfliktfrei – abgebaut. Die tatsächliche Belastung durch Importzölle ging bis zur Jahrtausendwende tatsächlich auf nur noch drei bis vier Prozent des Einfuhrwertes zurück. Wie die Europäer setzten auch die USA Importzölle nur noch gelegentlich und selektiv zum Schutz der eigenen Agrarindustrie gegen Rohstoffe exportierende Entwicklungsländer ein. Die Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Konkurrenz in Europa und Japan wurde statt dessen über das Währungsgefüge ausgetragen.
1944 vereinbarten die führenden kapitalistischen Staaten der damaligen Antihitlerkoalition eine internationale Währungs- und Finanzordnung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Wechselkurse der Währungen wurden politisch im Verhältnis zum Dollar festgelegt, der als einzige Währung ans Gold gebunden war. Die USA verpflichteten sich, anderen Zentralbanken – nicht jedoch einzelnen Bürgern – für je 35 US-Dollar eine Unze Gold (entspricht 31,1 g) auszuzahlen.
Kämpfe um den Dollar-Kurs
Die Beschlüsse von Bretton Woods sind der erste (und bisher) letzte erfolgreiche Versuch, den Konkurrenzkampf der nationalen Finanzkapitalgruppen sowie die Freizügigkeit des Finanzkapitals etwas einzudämmen. Die kernimperialistischen Länder waren so in der Lage, im Innern eine Wirtschaftspolitik zu betreiben, die den niederen Klassen und Schichten einen relativ hohen Anteil am erwirtschafteten Produkt ließ. Das hatte zur Folge, dass die wirtschaftliche Wachstumsrate hoch und die Arbeitslosigkeit niedrig waren. Der marxistische Historiker Eric Hobsbawm nennt aus diesem Grund die Nachkriegszeit das goldene Zeitalter des Kapitalismus. Man könnte auch sagen: die kapitalismusuntypische Phase des Kapitalismus.
Dieses Finanz- und Handelssystem dauerte bis 1971. Angesichts des hoch bewerteten Dollars (die D-Mark wurde von 1961 bis 1969 durchweg zu einem Viertel der US-Währung getauscht) verloren US-Industriewaren gegenüber Westeuropa und Japan Marktanteile auf dem Weltmarkt, und die Importe in die USA stiegen. Der früher enorm hohe Außenhandelsüberschuss der USA gegenüber dem Rest der Welt sank von Jahr zu Jahr und erreichte 1971 die Nullgrenze. Die europäischen Staaten verlangten Ende der 60er Jahre zur Bezahlung ihrer Handelsüberschüsse statt des von Abwertung bedrohten Dollars vereinbarungsgemäß tatsächlich physisches Gold. Da die Goldreserven der USA zwar hoch, aber absehbar endlich waren, war es logisch, dass es im August 1971 zum »Nixon-Schock« kam. US-Präsident Richard Nixon und sein Finanzminister John Connally hoben die Einlösepflicht von 35 Dollar gegen eine Unze Gold gegenüber anderen Zentralbanken einseitig auf. Das Bretton-Woods-System war damit am Ende. 1973 wurden auch die fest vereinbarten Wechselkurse zwischen den kapitalistischen Ländern praktisch aufgegeben.
In der Folge verlor der Dollar im Verlauf der 70er Jahre gegenüber den anderen Währungen etwa ein Drittel seines Wertes. Offiziell hatte er den Status als Weltwährung verloren, weil es die Goldbindung nicht mehr gab. Aber im Rückblick wurde der Dollar als weltweit wichtigste Währung im »System« frei schwankender Devisenkurse durch die Abwertung sogar wichtiger. Seit 1975 importieren die USA jährlich mehr als sie ausführen. Mehr noch, diese Defizite in der Außenhandels- und Leistungsbilanz (in der auch die über Grenzen hinweg gelieferten und bezahlten Dienstleistungen enthalten sind) haben sich seit damals stetig und massiv ausgeweitet. Als die Hauptursache dafür galt und gilt noch der gegenüber Japan und den damals noch verschiedenen Einzelwährungen Europas (zu) hoch bewertete Dollar. In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts verwendete die Regierung Reagan viel politische Energie darauf, die angebliche Unterbewertung des japanischen Yen am Devisenmarkt zu beseitigen, weil japanische Waren immer mehr den US-Markt überschwemmten. In zwei eigens einberufenen Regierungskonferenzen der führenden Industrienationen (G5) wurde den Märkten mit einigem Erfolg eine Wechselkursband zwischen Dollar und Yen, sowie implizit stellvertretend für Westeuropa auch der D-Mark suggeriert. Die Herausforderung der USA durch Japan blieb Episode. Das Problem Japan erledigte sich, als die überbordende Spekulation mit japanischen Aktien und Immobilien zur Jahreswende 1989/90 in sich zusammenbrach. Mehr als drei Jahrzehnte lang bietet Japan nun schon das Schauspiel eines hochentwickelten Monopolkapitalismus in Stagnation.
Das Leistungsbilanzdefizit
Das Problem der großen negativen Leistungsbilanz der USA aber blieb. Das Defizit im Warenhandel und bei den Dienstleistungen verringerte sich nur in den kurzen Rezessionsperioden, um in den langen Phasen des Aufschwungs wieder zu steigen. Im Aufschwung ab 2003 wuchs es rapide, erreichte kurz vor der großen Finanzkrise 2007/08 seinen bisherigen Höhepunkt und machte mit fast einer Billion Dollar mehr als sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) der US-Volkswirtschaft aus. Allerdings wurde es im Laufe der Zeit nicht nur wie in den 70er und 80er Jahren als Problem der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der US-Industrie wegen des zu hoch bewerteten Dollars bzw. der zu niedrigen Konkurrenzwährungen betrachtet.
Normalerweise muss ein Land, das dauerhaft mehr importiert als exportiert, also Jahr für Jahr Schulden anhäuft, irgendwann einmal diesen Prozess umkehren, entweder die eigene Währung abwerten lassen oder die Löhne nachhaltig senken oder am besten beides, um durch steigende Exporte gegenüber dem Ausland die aufgelaufenen Schulden zu begleichen. Das ist ein eisernes Gesetz des Warentauschs schon aus vorkapitalistischen Zeiten und gilt auch für Länder. Groß ist die Zahl der Länder, die eine solche Anpassung schon mehrmals in der Geschichte durchmachen mussten, oder besser: von ihren Gläubigern dazu gezwungen wurden. Auch das Mutterland des Industriekapitalismus, Großbritannien, hat es mindestens zweimal erlebt; einmal nach dem Ersten Weltkrieg in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts und zuletzt in den 70er Jahren, als der Sozialstaat zurückgeschnitten, die Gewerkschaften entmachtet, wichtige Teile des Staatsvermögens verschachert und der Neoliberalismus, also der Kapitalismus in Reinkultur, wieder eingeführt wurde. Britannien wird hier als Beispiel genannt, weil solche – euphemistisch genannt – »Anpassungsprozesse« nicht nur, wie gelegentlich vermutet, Entwicklungsländern oder weniger entwickelten »Schwellen«-Ländern wie Argentinien, Griechenland oder der Türkei oktroyiert wurden, sondern auch großkapitalistischen Nationen.
Kapital- plus Warenexport
Um zu verstehen, warum Ungleichgewichte im Außenhandel verschiedener Volkswirtschaften dauerhaft werden können und eben gerade nicht zum Ausgleich kommen, ist ein Rückgriff auf einige Bemerkungen Lenins in seiner Schrift zum »Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« von 1917 hilfreich. Zu den grundlegenden Merkmalen des Imperialismus (= Monopolkapitalismus) zählt Lenin, »der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besondere Bedeutung«. Der von Lenin als bedeutender werdendes Einzelphänomen genannte Kapitalexport ist im heutigen Imperialismus zum Normalzustand geworden. Dem vor 110 Jahren aus Sicht der am weitesten entwickelten Volkswirtschaften richtig bezeichneten Export von Kapital steht heute ein ebenso umfangreicher Kapitalimport der führenden kapitalistischen Volkswirtschaften gegenüber. Der Zahlungsverkehr zwischen den Nationen dient nicht mehr in erster Linie dem Ausgleich des Warenverkehrs. Entsprechend sind die Umsätze im Devisenhandel nur noch zum geringeren Teil davon motiviert, sondern davon, ob kurz- oder langfristige Profitvorteile winken. Aus dem Kapitalexport zu Lenins Zeiten ist der internationale Kapitalverkehr geworden, dessen Freiheit wiederum das primäre und weitgehend durchgesetzte Ziel des Neoliberalismus ist und als wirtschaftspolitisches Gebetbuch der »internationalen Staatengemeinschaft«, speziell der EU gilt. Die USA sind seit Jahrzehnten führend sowohl beim Import als auch beim Export von Kapital. Bemerkenswert ist, dass das Land ebenfalls seit Jahrzehnten netto Importeur von Kapital ist und seine Finanzkapitale (respektvoll-abfällig als »Wall Street« bezeichnet) dennoch netto eine Extraprofitrate aus den Finanzbeziehungen mit der übrigen Welt erzielt.
In einem vereinfachten Weltmodell der internationalen Handels- und Kapitalbewegungen haben wir es also mit Warenströmen zu tun, die von den Überschussländern wie Deutschland, China und Japan in die USA laufen und von den USA mit Dollar-Geld bezahlt werden. Die USA ihrerseits erhöhen ihre Verschuldung. Unternehmen, Verbraucher und Staat nehmen von Jahr zu Jahr mehr Kredite auf, als sie zurückzahlen. Der größte Teil dieser Kredite wird, wie überall in der Welt von US-Gläubigern gewährt. Der Rest kommt als Kapitalzufuhr (in Form eines Einfuhrkredits, des Kaufs von Staatsanleihen, von US-Aktien, US-Immobilien oder US-Unternehmen oder – wie im Anlauf auf die Finanzkrise 2007 – von durch US-Banken gebündelte Hypotheken auf Häuschen von Arbeitern und Kleinbürgern) aus dem Ausland. Die Kapitalzufuhr deckt also nicht nur einmalig, sondern jedes Jahr aufs neue das Defizit in der Handels- und Leistungsbilanz der USA und ermöglicht es dem Rest der Welt, seine Überproduktion abzusetzen. Die USA sind letztlich das Land, wo sich Käufer finden, die sich die produzierten Waren auch leisten können. Die USA sind kreditwürdig, obwohl sie seit Jahrzehnten mehr konsumieren als selber produzieren. Sie waren und sind immer noch »der Konsument letzter Instanz«. Tatsächlich bieten die USA, wie es heißt, den »tiefsten« und umfassendsten Finanzmarkt. Der Dollar ist Weltwährung und ist auch deshalb und trotz der enormen Handelsdefizite ähnlich teuer wie der Euro.
Das Erstaunliche daran ist, dass die USA diese enormen Importsummen scheinbar problemlos finanzieren können. Das »Geheimnis« besteht in der seit den 80er Jahren forcierten, aber durchaus folgerichtig aus dem monopolistischen Finanzkapital gewachsenen neoliberalen Aufblähung des Finanzsektors, an der alle kapitalistischen Volkswirtschaften Anteil hatten, in deren Zentrum aber das US-Finanzkapital steht. Was heißt Aufblähung des Finanzsektors? Es ist erstens Auswuchs einer dauerhaften Spekulation auf höhere Preise von Waren und Eigentumstiteln. Es ist zweitens eine höhere und wachsende Verschuldung nicht nur der Kapitalisten, sondern auch des Staates, der arbeitenden Bevölkerung und der Konsumenten. Banken, Versicherungen, Börsen, Fonds nehmen dem Volumen nach zu. In den kapitalistischen Unternehmen nehmen Marketing, Einkauf und Verkauf, Verteilung, Verwaltung und Werbung im Vergleich zur eigentlichen Produktion an Bedeutung zu. Triebkraft dahinter ist die Erhöhung der Profitrate. Man muss den »Erfindern« der neoliberalen Umgestaltung des Kapitalismus zugestehen, dass dieses Ziel im großen und ganzen gelungen ist. Der Anteil der Einkommen aus Gewinnen am Gesamtprodukt ist in den vergangenen 40 Jahren auf Kosten der Lohneinkommen in den kapitalistischen Kernländern gestiegen. Der in Geld gemessene Reichtum dieser Volkswirtschaften ist ebenfalls gestiegen.
In der Weltwirtschaft insgesamt hat dieser Zuwachs an (fiktivem) Reichtum sich besonders kräftig in den USA niedergeschlagen. Die Fähigkeit der USA, sich anscheinend unbegrenzt zu verschulden, das dauerhaft hohe Leistungs- und Außenhandelsdefizit, der relativ zu hoch bewertete Dollar und die Tatsache, dass die USA nicht nur größter Importeur von Kapital, sondern auch größter Kapitalexporteur sind und anscheinend bleiben, sind alle Ausdruck dafür.
Notwendiges Ungleichgewicht
Das dauerhafte Defizit in der US-Leistungsbilanz wird seit mehr als 20 Jahren schon von Ökonomen als das auffälligste »Ungleichgewicht« in der Weltwirtschaft betrachtet. Dieses Ungleichgewicht bzw. seine andere Seite, die Fähigkeit der größten Volkswirtschaft des Globus, hat sich bereits in der großen Finanzkrise 2007/8 als Sollbruchstelle des Weltfinanzsystems erwiesen. Die Zahlungsfähigkeit, ja Weiterexistenz der US-Banken, Fonds und Versicherungen stand in Frage, dazu auch die der beiden riesigen staatlich gestützten Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac. Als die Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 zusammenbrach, hörten die USA einige Monate lang auf, der dauerhaft zahlungskräftige Endabnehmer der weltweit produzierten Waren zu sein. Weltweit stockte nicht nur der Absatz, sondern auch die Investitionen brachen massiv ein – mit der Folge der schwersten weltweiten Rezession 2009. Charakteristisch für die anderthalb Jahrzehnte danach sind die niedrigen Wachstumsraten der Weltwirtschaft. Der Antreiber der Konjunktur, die weitere Ausweitung des Finanzsektors, hatte zwar wieder Tritt gefasst. Das Leistungsbilanzdefizit der USA ist seit damals nominal gewachsen (auf über eine Billion Dollar jährlich), ist aber wegen der hohen Dienstleistungsexporte und Gewinntransfers der größten US-Tech-Konzerne sowie der gestiegenen Öl- und Erdgasproduktion der USA in Relation zum US-BIP auf zwei bis drei Prozent gesunken. Auch in dieser Größenordnung scheint fraglich, ob es sich auf Dauer finanzieren lässt.
Herrn Trump stört offensichtlich etwas anderes: Die Schattenseite des von den Konzernen und Banken betriebenen Kapitalexports ist naturgemäß die zunehmende Deindustrialisierung des Landes. Die Kapitalisten der USA betreiben sie seit Anfang des vorigen Jahrhunderts, weil sie erstens nach neuen Anlagemöglichkeiten für ihre wachsenden Profite suchen und weil sie zweitens in weniger entwickelten Ländern niedrigere Löhne und damit höhere Mehrwert- und Profitraten vorfinden. Auf diese Weise wurden China und andere süd- und ostasiatische Länder in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten zur kapitalistischen industriellen Schwerpunktregion des Globus. Die »altkapitalistischen« Länder dagegen entwickeln sich zu Dienstleistungsgesellschaften. Laut Weltbank betrug 2022 der Anteil der Industrie am BIP in Frankreich, Britannien und den USA nur noch zwischen 17 und 18 Prozent, in Deutschland (und Japan) aber zwischen 27 und 28 Prozent. Ob die Textilfirmen seit Jahrzehnten Hemden oder Autositzbezüge in Süd- und Ostasien anfertigen lassen, ob Stahl vorwiegend aus Südkorea importiert wird oder ob Apple heute seine i-Produkte in China produzieren lässt, in allen Fällen wächst die Zahl der industriell Beschäftigten in Asien, während (nur) der Profit aus industrieller Tätigkeit im »altkapitalistischen« Kernland verbleibt. Mainstreamökonomen, einschließlich der wenigen Trump-Fans, stellen andererseits fest, dass die Industrieproduktion der wesentliche Treiber für das Wachstum von Volkswirtschaften bleibt. Das erklärt auch die besondere Sorge der Politik gegenüber diesem zentralen Bereich der kapitalistischen Volkswirtschaft.
Gegner nicht nur China
Die zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes letzte Wendung von Trumps Zollpolitik, nämlich auf die Einfuhren Chinas einen rekordhohen Zoll von 145 Prozent zu erheben, die meisten Zölle gegen den Rest der Welt aber auf »nur« 10 Prozent zu senken, sind sicher eher nach dem Geschmack der herrschenden Klasse in den USA. Alles zu tun, damit China die USA nicht als mächtigste Nation bei der Vorherrschaft über den Globus ablöst oder verdrängt, ist die allen Fraktionen der US-Kapitalistenklasse gemeinsame Position. Auch deshalb haben sich die Kapitalmärkte im Laufe der letzten drei Wochen wieder beruhigt. Dennoch wäre es falsch anzunehmen, dass die andere Tendenz der Trumpisten, auch den anderen kapitalistischen Konkurrenten eine Lehre zu erteilen, verschwunden wäre. Mit Bewunderung wird noch heute auf die erzreaktionäre Präsidentschaft Ronald Reagans (1981–1989) geschaut. Dessen von der Mainstreamökonomie als »Voodoo« bezeichnete Wirtschaftspolitik aus hohen Zinsen, hohen Staatsausgaben für Rüstung bei gleichzeitiger Senkung der Steuern, schadete wahrscheinlich den europäischen Volkswirtschaften mehr als den USA und leitete den Übergang der Weltwirtschaft in den Neoliberalismus ein.
Trumps Zollpolitik wird vermutlich dabei scheitern, wesentliche Teile industrieller Produktion ins eigene Land zurückholen. Es ist undenkbar, dass die US-Konzerne alte, aus den USA exportierte Industrien in großem Stil wieder zurückholen. Dennoch dürfte das Leistungsbilanzdefizit des großen Landes kleiner werden, weil die Bürger angesichts der durch die Zollaufschläge höheren Preise weniger Importware kaufen. Für die Weltwirtschaft heißt das, dass der wichtigste Konjunkturmotor ausfällt. Das neoliberale Wirtschaftsmodell der Globalökonomie wird in der folgenden Wirtschaftskrise abgewickelt.
Lucas Zeise schrieb an dieser Stelle zuletzt am 4. Oktober 2024 über die Deindustrialisierung der deutschen Wirtschaft: Stimmung im Keller.
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