Punkt und Linie zu Fläche
Von Sabine Lueken
»Herr Scholz, wo ist das Geld meiner Mutter? #Wirecard #CumEx #MMWarburg #FIU«. Die Wahlplakate der PARTEI hingen noch an den Laternen auf dem Weg zum Barberini, gelegen am Alten Markt im rekonstruierten Potsdamer Stadtzentrum. Das Museum, 2017 von SAP-Mitbegründer und Mäzen Hasso Plattner ins Leben gerufen, zeigt neben dessen privater Sammlung von Impressionisten vor allem Künstler der Moderne und bemüht sich dabei um einen neuen Blick. Zuvor hatte Plattner das aus den 1770er Jahren stammende Gebäude im Zuge der Rekonstruktion des alten Potsdams als eine Kopie der Kopie des Palazzo Barberini in Rom von Grund auf neu aufbauen lassen.
Die aktuelle Ausstellung in diesen großzügigen und mit neuester Sicherheitstechnik ausgestatteten Räumen widmet sich dem Pionier der abstrakten Kunst Wassily Kandinsky (1866–1944). Um zwölf Gemälde des Meisters gruppieren sich in acht Räumen angelehnt an Lebensstationen und Phasen seines abstrakten Schaffens 113 Werke von Zeitgenossen und Epigonen, zusammengetragen aus 43 prominenten und privaten Sammlungen aus der ganzen Welt, unter ihnen die Guggenheim Collection in Venedig und das New Yorker Guggenheim Museum, die UK Government Art Collection, die Fondation Beyeler in Basel, die Sammlung von George Costakis in Thessaloniki oder das Whitney Museum of American Art in New York.
Die vielfältige Vernetzung Kandinskys und die wechselseitigen Einflüsse werden nachvollziehbar, ebenso Kandinskys Fortentwicklung seiner abstrakten Malerei. Als einer der ersten malte er 1911 geometrisch abstrakt. Die Ausstellung startet mit dem noch gegenständlichen Bild »Weißer Klang« aus dem Jahr 1908, auf dem eine große weiße Wolke ohne realen Bezug auftaucht. Kandinsky gilt als Synästhetiker und ordnete bestimmten Farben Klänge und Empfindungen zu, hier dem Weiß die Vorstellung von Leere und Stille. In seiner Schrift »Über das Geistige in der Kunst« (1911) hat er darüber eine ganze Theorie entwickelt.
Kandinsky wurde 1866 in Moskau geboren, wuchs in Odessa auf, ging nach dem juristischen Staatsexamen 1896 nach München. Dort besuchte er zwei Jahre lang die Schule des slowenischen Malers Anton Ažbe, studierte danach bei Franz von Stuck. Er lernte Alexej Jawlewnsky und Marianne von Werefkin kennen, lebte mit Gabriele Münter in Murnau am Staffelsee und gründete mit Franz Marc den »Blauen Reiter«. Diese Phase kommt in der Ausstellung nicht vor, gehört auch nicht zu seinem abstrakten Werk.
Während des Ersten Weltkriegs musste Kandinsky nach Russland zurückkehren, wo er in Kontakt mit dem Suprematismus und Konstruktivismus kam, mit Kasimir Malewitsch, hier vertreten mit einem plastischen Werk, »Architektona und Figurinen« (späte 20er Jahre), El Lissitzky (Ohne Titel, 1919/1920), Ljubow Sergejewna Popowa (»Raum-Kraft-Konstruktion«, 1920/21), Alexander Rodtschenko und Iwan Kljun. Dessen Gemälde »Rotes Licht. Sphärische Komposition« erzeugt mit transparentem Farbauftrag einen geometrischen Körper, der leuchtend schwebt. Wie viele Künstler der Zeit beschäftigte sich Kljun mit Naturwissenschaften und Astronomie. Kandinsky nahm die Einflüsse seiner russischen Malerkollegen auf und kombinierte sie mit seinen eigenen kompositorischen Elementen (»Im schwarzen Viereck«, 1923; »Weißes Kreuz«, 1922). In Sowjetrussland wurde er in kulturpolitische Ämter berufen, folgte 1921 aber lieber einem Ruf nach Deutschland ans neu gegründete Bauhaus nach Weimar, ab 1925 in Dessau. Seine Kollegen waren Johannes Itten, László Moholy-Nagy und Paul Klee. Mit letzterem lebte er in Dessau als Nachbar in einem der Meister-Doppelhäuser.
1926 erschien seine Schrift »Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente« als Nummer neun in der Reihe der Bauhausbücher. Er ordnete die Primärfarben den geometrischen Grundformen und auch Emotionen zu, Rot dem Quadrat, Gelb dem Dreieck und Blau dem Kreis. 1933 musste er aus Deutschland fliehen und ging zurück nach Frankreich, nach Neuilly-sur-Seine nahe Paris. Er schloss sich der Gruppe Abstraction-Création an, der unter anderem Sonia Delaunay, Piet Mondrian und Sophie Taeuber-Arp angehörten. Unter dem Einfluss der Surrealisten und der Anthroposophie Rudolf Steiners nahm er auch nichtgeometrische, biomorphe Formen in seine Arbeiten auf (»Roter Knoten«, 1936, »Begleitetes Zentrum«, 1937). Er starb 1944, wie Piet Mondrian, der mit anderen der Gruppe De Stijl ebenfalls als ein Begründer der Abstraktion gilt und einen anderen Ansatz verfolgte. Hinzugefügt sei, dass sämtliche der genannten Künstler von den Nazis als »entartet« betrachtet wurden.
Nach Kandinskys Tod brachten Exilanten, Bauhaus-Lehrer und deren Schüler Kandinskys und eigene Kunstideen in die USA und in die Schweiz. Max Bill initiierte in Zürich die »Konkrete Kunst«, abstrakter als abstrakt. In der Nachfolge des Bauhaus-Lehrers und Kandinsky-Kollegen Josef Albers (»Huldigung an das Quadrat«, 1949/50), der 1933 in die USA emigriert war, entstanden »Hard Edge«-Malerei und Optical Art, kurz Op-Art genannt. Unter dem Titel »Space Age« sind im Barberini eine Vielzahl von Arbeiten ausgestellt, etwa von dem aus Ungarn stammenden Victor Vasarely, Vertreter des sogenannten ungarischen Bauhaus, von Bridget Riley und Frank Stella. Ihnen ging es nicht mehr um geistig-seelischen Ausdruck mit den Mitteln der Malerei, sondern um das Experimentieren mit der Wahrnehmung selbst. Mit geometrischen Mustern und Farben erzeugten sie räumliche oder bewegte Effekte und foppten so das Auge.
Die schwedische Malerin Hilma af Klint, die noch früher als Kandinsky abstrakt malte, kam nicht vor. Sie gehört offenbar nicht zum »Kosmos«. Ein Nebeneffekt: Nach dem Gang durch die Ausstellung konnte ich die impressionistischen Bilder nicht mehr ertragen.
»Kosmos Kandinsky. Geometrische Abstraktion im 20. Jahrhundert«, Museum Barberini, Humboldtstr. 5–6, Potsdam, bis 18. Mai 2025
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Patrick Pleul/dpa28.09.2022
Fliegende Nachbarn
- ullstein bild16.07.2021
Der klarste Kristalliker
- Sammlung Karsch/Nierendorf/Estate of George Grosz, Princeton, N.J./VG Bild-Kunst, Bonn 201827.11.2018
Sanfter Biss
Mehr aus: Feuilleton
-
Wenn du ein Problem hast …
vom 09.05.2025 -
Dokument und Entsetzen
vom 09.05.2025 -
Nachschlag: Rettet den Görli
vom 09.05.2025 -
Vorschlag
vom 09.05.2025