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Aus: Ausgabe vom 07.05.2025, Seite 11 / Feuilleton
Festivalfilm

Die falsche Seite der Geschichte

Komplizierte Paarungen: Die 71. Kurzfilmtage in Oberhausen
Von Manfred Hermes
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Martha hat genug gearbeitet

Der Eindruck einer zunehmenden Verbreitung plakativer Verbalsignale wird auch im Frühstücksbereich des Festivalhotels bestätigt. Auf einem Pfeiler steht: »Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt. Sieh sie Dir an!« Die nette Achtsamkeitsvorgabe erinnert allerdings auch an die »göttlichen Haussegen« oder an gerahmte Appelle zur Pflichterfüllung, die vor 100 Jahren noch an vielen Wänden hingen. Auch das Motto »Die Kunst dem Volke«, das einst über dem Portal der Berliner Volksbühne prangte, gehört zu dieser Sorte Kommunikation. Wahrscheinlich auch die zwar weniger griffigen, aber bei Großveranstaltungen inzwischen unerlässlichen »Disclaimer«: »Wir dulden keinerlei Diskriminierung, sei es aufgrund von rassistischen oder antisemitischen Zuschreibungen, ethnischer Herkunft, Staatsangehörigkeit, sexueller und geschlechtlicher Identität, Religion, körperlicher oder psychischer Beeinträchtigung, Alter, Sprache oder sozialem Status.« Soviel zum Lokalkolorit oder zum Verhältnis von Wort und Aktion.

Die 71. Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen fanden in diesem Jahr vom 29. April bis 4. Mai unter der neuen Leitung von Madeleine Bernstorff statt. Da sie seit langem mit dem Festival assoziiert ist, wirkte der Wechsel nicht disruptiv, sondern ging gleitend vonstatten, was der Stimmung übrigens sehr zuträglich war.

Zum Kolorit der Kurzfilmtage gehört aber immer noch die Befragung politischer Optionen, soweit sie sich mit Filmen oder dem Film verknüpfen lassen. Fragen nach Veränderung, Wirksamkeit, gesellschaftlicher Relevanz oder Notwendigkeit können nicht oft genug gestellt werden. Sofern das, was Diskurs genannt wird, nicht ganz so oft auf einen Austausch von Blechmarken hinausliefe. Es kann zum Beispiel schwer werden, einem Panel unter dem Titel »Ideologiemaschinen« zu folgen, wenn dort erneut die Benutzung des »N-Worts« gegeißelt wird, was zwar rigoros klingt, aber eigentlich kaum einen Realitätsbezug hat. Bis auf den Widerspruch natürlich, dass mit der Abkürzung des Schmähworts das Wort selbst jeweils neu evoziert wird. Aber vielleicht kann auch hinter einer solchen Abwehr »irgendein ästhetischer Mehrwert« (Gertrud Koch) entstehen, was für eine politisch konzipierte Kunst schön wäre. Doch dann kam das inkriminierte Wort tatsächlich ausgesprochen und ohne Disclaimer vor, nämlich in Walter Heynowskis »Kommando 55« von 1965. Das Politische und der Film – es kann zu unglaublich komplizierten Paarungen führen.

»Kommando 55« war einer der vielen Höhepunkte des diesjährigen Schwerpunkts »Umwege zum Nachbarn«. Ausgangspunkt der Reihe war die traditionelle Verbindung, die die Kurzfilmtage mit dem Filmschaffen des Ostblocks unterhielten. Dabei gestalteten sich die Beziehungen zwischen der BRD und dem dort lange »DDR« geschriebenen Staat durchaus schwierig. Abgrenzungszwänge konnten sich auf beiden Seiten ergeben. Nach dem Mauerbau wurde etwa eine Einladungsblockade für DDR-Produktionen verhängt. Da sie nicht ewig hielt, konnten Filme wie Jürgen Böttchers »Feierabend« (1964) bald wieder ihr ersehntes Forum im Westen finden.

Film war in der DDR immer ein ausdrücklich politisches Medium, das für das Gute und Richtige eintreten musste, vermittelt durch das Schöne (einer hohen handwerklichen Qualität). Alltagsnähe sollte gewahrt und stets mit dem Ziel gesellschaftlichen Fortschreitens abgeglichen werden. Überall hinsehen, keinen Aspekt des Zusammenlebens ausschließen, um aus vielen Ausschnitten Näherungen an die Realität zu ermöglichen. Das war selbstverständlich ein ideologisches Unternehmen, aber diese »Kunst dem Volke« wirkte nie verlogen oder von oben herab (»Hinter den Fenstern«, 1983, Petra Tschörtner). In »Martha« (1979) hat Böttcher eine knarzige Frau in den Ruhestand begleitet. Die ehemalige Trümmerfrau war auch später bei der Schwerstarbeit im Baurecycling geblieben. Man sieht ihr das an, erstaunlich aber ist ihre glanzvolle und völlig unneurotische Präsenz auf Film: Ich habe meine Arbeit gemocht, ich hatte immer genug, aber jetzt reicht es auch mit der Arbeit.

Durch eine weitere Programmreihe ergaben sich erstaunliche, aber unwillkürliche deutsch-deutsche Korrelationen. Die Dokumentationen von Dietrich und Katharina Schubert für den WDR. Nach Beiträgen zu linker Kulturgeschichte waren sie um 1980 wohnortbedingt auf das Thema Eifel gekommen. Filme wie »Blumenthal – Vom Eisen in der Eifel« (1983) oder »So wie uns geht es tausend anderen« (1982) haben die Transformations- und Verlustgeschichten dieser Gegend nachvollzogen und in ruhigem Voice-over über Ortsansichten oder naturhaft wirkende Landschaften erzählt. Über Jahrhunderte wurde in der Eifel Eisenerz gefördert, das dort, dank großer Buchenbestände, auch verhüttet wurde. Die Expansion dieser Industrie erforderte Mitte des 19. Jahrhunderts den Umstieg auf Koks. Die Eisenindustrie wanderte von der Kyll an die Ruhr – mit ihr die Industriearbeiter. Von da an wurde bis ins Ruhrgebiet gependelt, was hieß, dass man Frau und Kinder nur noch zweimal im Jahr sehen konnte. Anders als im Ruhrgebiet ist von diesem Strukturwandel heute kaum noch etwas sichtbar, er wurde gewissermaßen wegrenaturiert. Allerdings kann auch dieses neue Pittoreske historisch zu denken geben. Im 19. Jahrhundert wurde die Eifel von den neuen Herren mit Fichten aufgeforstet, die für Eifler dadurch zur Insigne des Preußentums wurde.

Was die angedeuteten Korrespondenzen mit DDR-Produktionen betrifft, so stellten sie sich eher durch Gegensätze her. Oberflächlich gesehen hat man es auf beiden Seiten mit einem Sympathisieren mit »einfachen Leuten«, dem »Volk« usw. zu tun. Trotzdem sind die Implikationen so verschieden, wie es die gedanklichen Voraussetzungen waren. Drüben: der gesellschaftliche Rahmen, der Machbarkeit und Veränderung möglich halten will. Hüben: Sozialgeschichte mit fatalistischem Einschlag. Es lässt sich bei den Schuberts die Faszination mit alten Zuständen nicht immer von einer Sehnsucht nach ihnen unterscheiden. Und während Helke Misselwitz in »Stilleben« (1984) die »Reise zu den Dingen« mit dynamischen Anfahrten über Schienenstränge bebilderte, sind diese in »Blumenthal« nur noch melancholisch besetzt. Denn das Eifeler Eisen, das hier verlegt wurde, ist nun faktisch stillgelegt, und anders als Böttchers Martha haben auch die Bewohner hier nichts als Sorgen.

In den 1970er Jahren erodiert aber auch in einer medialisierten DDR die Bindekraft staatlich geordneter Anliegen. Idiosynkrasien, Unverträglichkeiten, gestörte Verhältnisse treten zutage. Man reibt sich am »System« oder wird aufgerieben, auch Bohemisierung ist eine Option, wie in Bernd Sahlings »Aber wenn man so leben will wie ich« (1988). Jedenfalls rutscht die Arbeiterklasse aus der Verortung in statischen Straßen- oder Fabrikbildern heraus. In »Struga – Bilder einer Landschaft« (1972) findet sich die heroische Klasse auf der falschen Seite der Geschichte wieder. Der Braunkohleabbau frisst sich durch die Lausitz. Dörfer drohen zu verschwinden, und mit ihnen die Kultur ihrer sorbischen Bewohner. Das prangerte Konrad Herrmanns Film an und appelliert in verspielten, märchenhaften und vielfach um die Ecke gedachten Sequenzen gegen die Ausbeutung von Naturressourcen um jeden Preis.

Das heute ansonsten oft vernutzt oder abgenutzt rüberkommende »Politische« macht es manchmal schwer zu übersehen, dass sich das aus ganz diversen Formen ergeben könnte. Da war es schön, dass Madeleine Bernstorff ihre Präsentation einer neuen Ausgabe von »Cine Zines« mit Filmen von Hollis Frampton begleitet hat. In »Gloria!« (1979) operierte Frampton zwischen Wort, Stimme, Erinnerung und Bildvorstellung und testete witzig und clever an den Grenzen struktureller Logik des Mediums herum.

Ins historische Profil dieses Artikels passt dann wohl auch, dass der israelische Beitrag »The Palace Square« von Mikhail Zheleznikov, in dem der zentrale Platz in Petersburg zum Angelpunkt von Betrachtungen zur politischen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts wird, den zweitwichtigsten internationalen Preis dieses Festivals gewonnen hat.

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