Israel will die volle Kontrolle
Von David Siegmund-Schultze
Neben der vollständigen Besetzung Gazas hat das sogenannte Sicherheitskabinett Israels am Sonntag beschlossen, künftig die Kontrolle über die Verteilung von Hilfslieferungen zu übernehmen. Wie ein Regierungsvertreter der Washington Post vom Montag sagte, habe man sich auf die »Möglichkeit« geeinigt, humanitäre Güter selbst zu verteilen – »wenn als notwendig erachtet«, wohlgemerkt.
Seit über zwei Monaten blockiert die israelische Armee sämtliche Hilfslieferungen in den Gazastreifen und setzt Hunger damit gezielt als Waffe ein. Laut UNICEF wurden in diesem Jahr über 9.000 Kinder wegen akuter Unterernährung zur Behandlung eingeliefert. Das Gesundheitsministerium in Gaza sagte am Sonnabend, dass bereits mindestens 57 Menschen verhungert sind, die meisten davon Kinder, Kranke und Alte – Bilder von bis auf die Knochen abgemagerten Kindern wurden am Sonntag selbst in der »Tagesschau« gezeigt. Premier Benjamin Netanjahu scheint sich angesichts dessen gezwungen zu sehen, seiner Kriegführung einen minimalen humanitären Anstrich zu geben.
Doch was ist bisher über die Pläne bekannt? Im Bericht der Washington Post heißt es mit Verweis auf anonym bleiben wollende Quellen, dass die Armee ab Ende Mai 60 Lastwagen pro Tag in das Gebiet lassen wolle – ein Zehntel der Lieferungen, die während der Waffenruhe zu Beginn des Jahres täglich den Gazastreifen erreichten. Die Nahrungsmittel sollen an sechs verschiedenen Ausgabestellen im Süden des Gebiets von NGOs verteilt werden, abgesichert durch zwei private US-Militärfirmen namens Safe Reach Solutions und UG Solutions. Dort soll jeweils ein Vertreter einer Familie, nachdem er sich mittels einer Gesichtserkennungstechnologie identifiziert hat, die Essensration seiner Angehörigen für bis zu zwei Wochen abholen können.
Sämtliche in Gaza tätigen humanitären Organisationen kritisierten den Beschluss scharf, weil er den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen in keinster Weise gerecht werde und gegen humanitäre Prinzipien wie das der Neutralität verstoße. Der Völkerrechtler und Sonderberater des in Gaza tätigen Norwegian Refugee Council, Itay Epshtain, wies am Montag in einer Stellungnahme auf X darauf hin, dass Israels Plan gegen das humanitäre Völkerrecht verstoße. Als Besatzungsmacht sei das Land dazu verpflichtet, die Versorgung der Bevölkerung in Gaza in deren Interesse und nicht im eigenen sicherzustellen. Nach Artikel 59 der Genfer Konvention sei Israel außerdem angewiesen, die Durchführung von Hilfsprogrammen durch unparteiische humanitäre Organisationen zu gewährleisten.
Unter dem Deckmantel der Menschlichkeit beabsichtigt Netanjahus Regierung jedoch der Arbeit humanitärer Organisationen den Todesstoß zu versetzen. Am Dienstag haben 55 internationale NGOs eine Stellungnahme unterschrieben, in der sie jüngst erlassene Registrierungsmaßnahmen verurteilten. Demnach behalte sich das Land vor, in Gaza tätigen NGOs die Genehmigung zu entziehen, sollten sie »Israel delegitimieren« oder die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen einfordern. Die Maßnahme knüpft die Möglichkeit humanitärer Arbeit im Gazastreifen also an die Bedingung politischer Loyalität mit Israel. Darüber hinaus ist die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgütern ein wichtiger Baustein für Israels Besetzungs- und Vertreibungspläne.
Einen Todesstoß bedeutet der Beschluss auch für Verhandlungen mit der Hamas: »Es hat keinen Sinn, Gespräche zu führen oder neue Vorschläge für eine Waffenruhe in Erwägung zu ziehen, solange der Hunger- und Vernichtungskrieg im Gazastreifen weitergeht«, erklärte deren Sprecher Basem Naim am Dienstag. Die internationale Gemeinschaft solle Druck auf die israelische Regierung ausüben, »die Verbrechen des Hungers, Durstes und Tötens im Gazastreifen zu beenden«.
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