Spiegel der Tauromachie
Von Holger Römers
Albert Serras Dokumentarfilm »Nachmittage der Einsamkeit« zeigt einen Stierkämpfer in der Arena. Vor und zwischen seinen Auftritten ist der Matador auf dem Arbeitsweg zu sehen, den er zusammen mit den ihm untergebenen Banderilleros und Picadores im Minibus zurücklegt. Mitunter wird er auch im Hotelzimmer von einer Kamera in Empfang genommen, die bei anderer Gelegenheit seine Vorbereitungen zum Aufbruch beobachtet.
Serra, der gemeinsam mit Kameramann Artur Tort Pujol auch für die Montage verantwortlich zeichnet, blendet indes den formellen Rahmen der Stierkämpfe konsequent aus. Deren ausschnitthafte Abbildung setzt jeweils in medias res ein, etwaige Begleitprogramme, Durchsagen oder Musikeinspielungen bleiben außen vor. Allenfalls in groben Zügen lässt sich aus den faszinierenden Impressionen ein Regelwerk ableiten, weshalb man Vorwissen besitzen müsste, um beispielsweise nachzuvollziehen, warum die Toreros diesen oder jenen Stier »gut« nennen beziehungsweise »mittelmäßig«. So wird freilich Neugier angeregt: Wenn der Matador gegenüber einem Mitglied seiner Mannschaft die Wahl eines Tieres beanstandet, stellt sich spontan die Frage, wer diese Wahl unter welchen Bedingungen treffen darf.
Eine ähnliche Wirkung hat auch die Weigerung Serras, uns in seinem ersten Dokumentarfilm Informationen zur Ökonomie, Soziologie oder Politik des Stierkampfs zu bieten. Wer das Œuvre des exzentrischen 49jährigen Spaniers, dessen jüngster Spielfilm »Pacifiction« war, zumindest teilweise kennt, wird von »Nachmittage der Einsamkeit« aber ohnehin keine Off-Kommentare, Interviews oder Texteinblendungen erwarten. Dass nach der Titelsequenz der Name Andrés Roca Rey auf der Leinwand erscheint, dürfte schlicht dem Renommee geschuldet sein, das der Matador in seinem Metier besitzt.
Die Aufnahmen aus den Hotels deuten an, dass die Stars dieses blutigen Gewerbes einen gewissen Komfort erwarten dürfen. Das gibt jedoch erst recht Anlass zur Frage, wie der Todesmut beziffert wird, den dieser Beruf fraglos erfordert, wie mehrere Szenen mit spektakulärer Drastik beweisen. Wenn in Wortwechseln gelegentlich Peru erwähnt wird, mag man sich wiederum wundern, ob die entsprechende Herkunft Roca Reys (auf dessen Geburtsland nie als solches Bezug genommen wird) stellvertretend für Entwicklungen im spanischen Stierkampf steht: Gibt es Parallelen zum Profiboxbetrieb, der den Nachwuchs für sein vergleichbar gefährliches Geschäft seit Jahrzehnten zunehmend unter Migranten rekrutiert? Und mit Blick auf die Zuschauer: Inwiefern unterscheiden sich die Anzugträger aus den vordersten Reihen, die gelegentlich am Bildrand auftauchen, von den Leuten auf den sprichwörtlichen billigen Plätzen? Sind Zwischenrufe, deren Zunahme ein Torero einmal beklagt, symptomatisch für eine Veränderung des Publikums? Womöglich ausgelöst durch partielle Verbote des Stierkampfs, die ihrerseits dessen rechte Politisierung beförderten?
Dass der Kontext nicht thematisiert wird, macht ihn also nicht vergessen. Erst recht ergibt sich hier nicht der sonst naheliegende Effekt, den Gegenstand gleichsam naturgegeben erscheinen zu lassen (obwohl der Filmemacher in Interviews gern von Anthropologie spricht). Das abgebildete Ritual ist nämlich so unübersehbar von altertümelnder Theatralik geprägt, dass jeder Bezug aufs eigene Leben jenes Posieren, Stolzieren und Grimassieren ad absurdum führte.
Serra stiftet zudem befremdete Distanz, indem er etwa den grotesken Kraftaufwand bewusst macht, den das Bekleiden des Matadors mit dem hautengen Kostüm einem persönlichen Assistenten abverlangt. Dass dabei, wie immer im Hotel oder im Minibus, die Kamera unbewegt bleibt, unterstreicht die vorurteilsfreie Nüchternheit, die in diesem Film durchgängig die Perspektive bestimmt und einer Überwältigung des Publikums sogar dann vorbeugt, wenn dieses sich unvermittelt in die Arena geworfen findet. So kann die nun bewegliche Kamera, indem sie die extreme Nähe von Torero und Stier auch in Großaufnahmen von Körperteilen betont, ganz neutral jene makabre Anmut aufscheinen lassen, auf die es Serra bei dem Stoff wohl ankam. In jedem Fall wird die schiere Vitalität spürbar, die die imposanten Tiere mit jedem Atemzug verströmen, der ihre Muskeln durchschüttelt – bis zu dem mit beiläufiger Unverblümtheit dokumentierten Moment des Sterbens. Nur konsequent, dass den majestätischen Kraftpaketen bereits die allerersten Bilder in diesem Film gebühren.
»Nachmittage der Einsamkeit«, Regie: Albert Serra, Spanien/Frankreich/Portugal 2024, 125 Min., bereits angelaufen
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Mehr aus: Feuilleton
-
Nicht integrierbar
vom 03.05.2025 -
Es braucht ein Jubiläum
vom 03.05.2025 -
Zum 1. Mai 2025
vom 03.05.2025 -
Nachschlag: Wiesu denn bluß?
vom 03.05.2025 -
Vorschlag
vom 03.05.2025 -
Veranstaltungen
vom 03.05.2025